Belletristik Lieblinge in 2021 - 2020 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

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unsere Belletristik-Lieblinge in 2021:
Ralf Schwob empfiehlt: Federleichte Schwere

Eine junge Frau, die nicht weiß, wer sie ist oder woher sie kommt, aber bei jedem Menschen, dem sie begegnet, Erinnerungen auslöst – das ist die faszinierende Exposition in Britta Röders neuem Roman. Angelica, so wird die Frau bald von allen genannt, trifft auf ganz unterschiedliche Menschen, da ist etwa die betagte Charlotte, deren dramatische Lebens- und Liebesgeschichte in die Zeit des zweiten Weltkriegs zurückführt. Oder Rolf, der seine Frau bei einem Unfall verloren hat und seitdem nicht mehr in sein altes Leben zurückfindet.      

Geschickt verknüpft die Autorin in ihrem Roman mehrere Erzählstränge, die alle um die geheimnisvolle Frau kreisen, miteinander. Obwohl dabei zuweilen sogar zeitliche Grenzen überschritten werden, trägt der Roman uns mühelos von einem Handlungsfaden zum nächsten, ohne dass man dabei jemals den Faden verliert. Das Geheimnis um Angelicas Herkunft wird, so viel sei schon jetzt verraten, am Ende gelüftet – und damit erscheinen dann auch viele der zunächst rätselhaften Vorgänge im Buch in einem anderen Licht.
„Das Gewicht aller Dinge“ ist kein Liebesroman, sondern ein vollkommen kitschfreier Roman über die Liebe und wozu sie Menschen befähigt.

Britta Röder: „Das Gewicht aller Dinge“, Größenwahn Verlag, 978-3-957712-87-5, € 12,00

Eine sichere Bank

Ja, Axel Hacke ist, was sprachliche Kuriositäten angeht, eine sichere Bank. Das hat mehrere Gründe: Er ist im Deutschen sprachsicher. Er hat Kenntnisse in mehreren Sprachen. Und er bekommt aus aller Herren Länder Fundstücke zugesandt, die mit Sprache zu tun haben. Über Jahre hinweg sammelte Hacke sie in einer Schachtel um irgendwann mal ein Buch daraus zu machen. Und das hat er dann im letzten Jahr getan – herausgekommen ist ein Buch voller amüsanter Kurztexte. Man kann das Ganze in der Reihenfolge lesen, die die Seitenzahlen vorgeben. Oder man schlägt es mal hier, mal da auf und pickt sich immer wieder neue Sprachspielereien heraus.

Dann stößt man auf so erstaunliche Lyrik wie „He shun do, miller’s coo“ (bitte einmal laut vorlesen, dann hören Sie den Beginn des Kinderreims!) und auf den Hinweis „Waschen sie immer Ihren – körper das innere nach außen“ (vielleicht wenden Sie aber auch Ihre Hose vor dem Waschen nach innen, mal so als Vorschlag). Es gibt hingestreckte Grundeigentümer, die wohl eine größere Delikatesse sind als ebensolche Mieter oder Pächter. Und man findet auch ein erstaunliches Komma, das aus dem bekannten Liedtext „Liebeskummer lohnt sich nicht“ das genaue Gegenteil macht. Willkommen im Sprachland!

Axel Hacke: „Im Bann des Eichelhechts“, Kunstmann Verlag, 978-3 95614-431-8, € 22,00  
Wie es hätte sein können …

Hamnet sucht im ganzen Haus – und im Nachbarhaus der Großeltern – nach jemandem, der ihm helfen kann: Oben in ihrer Stube liegt Judith, seine Zwillingsschwester, die von jetzt auf gleich Fieber bekommen hat. Der es nicht gut geht. Für die er dringend Hilfe benötigt. Liebend gerne möchte er die Mutter finden, mit ihrem Kräuterwissen wird sie es schon richten! Wenigstens die Großmutter, eine Magd, oder Susanna, seine ältere Schwester, irgendjemand, der sagen kann, was zu tun ist! Doch nur der Großvater ist da, ausgerechnet, wo doch der Vater davor gewarnt hat, diesem zu nahe zu kommen. Ein guter Rat, der jedoch nicht wirklich hilft, wenn der Großvater das geschickt zu umgehen weiß. Als Hamnet wieder bei Judith ist, hat er eine blutende Verletzung unter seinem Auge. Und sie hat zwei Ausbuchtungen an Hals und Gesicht …

Maggie O’Farrell hat keine Romanbiographie geschrieben. Sie hat fabuliert – denn über das Leben von William Shakespeare, dessen Familie wir in diesem Roman kennenlernen dürfen, gibt es viel zu wenige Fakten. Aber so wie sie es erzählt – mit ein paar mystischen Ausnahmen – hätte es sein können. Und wie sie diese Geschichte erzählt, das ist ganz große Fabulierkunst! An deren Ende man Shakespeares Drama Hamlet anders liest. Denn, wie es dem Roman vorangestellt ist: Zu Zeiten Shakespeares gab es keinen Unterschied bei den Namen Hamnet und Hamlet.

Maggie O’Farrell: „Judith und Hamnet“, Übersetzung: Anne-Kristin Mittag, Piper Verlag, 978-3-492-07036-2, € 22,00
Spiegelbilder

„Papa Dictator, der skrupellose Tyrann, geht seinen täglichen Amtsgeschäften nach.“ Das ist der Text zur ersten Seite von „Papa Dictator rettet die Umwelt“ – und zu sehen ist er beim Chillen am Pool, Gießen der Blümchen und beim Hockeyspielen. Auf der nächsten Doppelseite dann zoomt das Bild auf und es ist mehr als nur der Garten des Dictatorenhauses abgebildet: Ein Laster entsorgt Altöl einfach in den Boden, neben Atommüll-Fässern gammeln alte Kühlschränke, aus Fabrikschloten quillt jede Menge Rauch und Bäume und Tiere haben das alles nicht überlebt. „Ach Kinder, wie haben wir’s doch gut in unserem idyllischen Naturgarten!“ Papa Dictator sieht nur seine kleine Oase.

Nicht nur bei dieser Comic-Geschichte bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Zumindest wenn man sich die Bilder ansieht – die Texte sind harmlos bis naiv. Gerade dieses Zusammenspiel lässt uns Leser:innen genau hinsehen. Und es beschäftigt, wenn man will, auch den Kopf sehr lange: Wie viel davon handhaben wir genauso? Und wann ist denn die Zeit für Veränderungen? Die Geschichten gibt’s übrigens auch einzeln als „Erwachsenen-Pixi“. Coole Sache!

Mic: „Papa Dictator – Weltherrschaft“, Jaja-Verlag, 978-3-946642-00-8, € 15,00
Tröstlich

Es hat einige Zeit gedauert, bis Yui sich auf den Weg gemacht hat: Durch eine Reportage hat die Radiomoderatorin von der Telefonzelle des Windes erfahren, in der man zu geliebten Verstorbenen reden kann. Eine Tagesfahrt von Tokio entfernt ist sie und nahe am Meer, dort, wo im März 2011 der Tsunami wütete. Das Meer nur anzusehen macht Yui schon zu schaffen – ihre kleine Tochter und ihre Mutter sind in besagtem Tsunami ertrunken. Ob sie die Zelle betreten wird, das weiß sie noch nicht, doch alleine dort zu sein und mit Suzuki-san, dem Hüter des Gartens in dem die Telefonzelle steht, zu reden tut ihr gut. Und dann ist da noch Takeshi, den sie kennenlernt und der seinen ganz eigenen Grund hat, sich einmal im Monat mit ihr auf den Weg nach Bell Gardia zu begeben …

Diese Telefonzelle und den Garten Bell Gardia gibt es wirklich und auch der Tsunami ist Realität. Während in jedermanns Gedächtnis der Reaktorunfall von Fukushima fest verankert ist, sind Seebeben und Flutkatastrophe, die den Reaktorunfall auslösten, fast nur in Japan Bestandteil der Erinnerung. Dabei starben rund 22.000 Menschen an diesem Tag. Den Angehörigen der Toten widmet Laura Imai Messina ihr anrührendes, stilles und doch lebensbejahendes Buch – dieser Roman lässt einen lange nicht los.

Laura Imai Messina: „Die Telefonzelle am Ende der Welt.“, Verlag btb, Übersetzung Judith Schwaab, 978-3-442-75896-8
Eine Schicksalsgemeinschaft

Klavierlehrer Gabriele Santoro ist ein zurückgezogen lebenden Einzelgänger, der eines Morgens einen Gast in seiner Wohnung hat: Ciro, der zehnjährige Sohn des Nachbarn von oben, hat sich in einem unbeobachteten Augenblick in Santoros Wohnung geschlichen und erhofft sich trotzigen Blickes, bleiben zu können. Erst nach einigen Tagen berichtet er, warum er sich versteckt - er wollte mit seinem Freund zusammen eine alte Frau berauben, diese ist dabei gestürzt und liegt jetzt im Koma. Die alte Frau war die Mutter des örtlichen Mafia-Clan-Chefs und Ciro weiß sehr genau, was ihn erwartet. Gegen alle Erfahrungen hilft der "Maestro" und versteckt ihn. Allerdings zieht sich die Schlinge der Mafia immer dichter um die beiden …
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Die Geschichte spielt in Neapel - und das gleichermaßen erschreckende wie in-die-Geschichte-hineinziehende ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Mafia dort über Leben und Tod entscheidet. Bzw. die Selbstverständlichkeit mit welcher der Autor Roberto Andò das darstellt (er lebt dort und weiß, wovon er spricht). Andò verhandelt mit Hilfe der Geschichte auch die Frage, ob das Recht oder die Gerechtigkeit für eine Gesellschaft wichtiger sind. Eine abschließende Antwort bleibt er uns allerdings schuldig. Die Gedichtzitate und Bezüge zu Musik und Literatur, die sich durch den ganzen Roman ziehen, sind übrigens kein bisschen aufgesetzt, sie passen hervorragend zur Figur des Maestro.

Roberto Andò: „Ciros Versteck“, Übersetzung: Verena von Koskull, Folio Verlag, 978-3-85256-826-3, € 22,00
Kettensägen und Urlaubskoffer

„Her mit dem wilden Leben!“ steht außen drauf. Inklusive Ausrufezeichen. Und als Untertitel „Kurze Erzählungen von und für Frauen“. Insgesamt sind es 13 Texte, und nur einer davon ist länger als 20 Seiten – Tatjana Kruse braucht diese Seitenzahl um vom schweizerischen Grenzübergang, dem Treffen mit Jean-Claude und seiner Glock bis hin zum Klappspaten im Hotelgarten alles schlüssig zu erzählen. Andere brauchen nur wenige Seiten um vom Wechseln des Friseurs (Marian Keyes), T-Shirts mit abstrusen Sprüchen (Ronja von Rönne) oder einem Kettensägenlehrgang (Margarete Stokowski) zu berichten. In nahezu allen Texten nehmen die Autorinnen ihr Frausein nicht allzu ernst und nur eine rutscht ins Bedienen von Klischees. Aber darüber liest man, weil die Zusammenstellung so schön amüsant ist, gerne hinweg.

Eigentlich ist das genau das Buch, dass ich einer Freundin mit zur Kur geben würde. Unterhaltsam, überhaupt nicht blöd, herrlich handlich. Und schnell zur Seite legen kann man das Büchlein auch, weil die Texte knackig kurz sind.

„Her mit den wilden Leben! Kurze Erzählungen von und für Frauen“, Pattloch Verlag, 978-3-629-11617-8, € 10,00
Preisgekrönt

Byongsu Kim liebt seinen Bambushain, liest gerne Klassiker und schreibt Gedichte. Der Dozent der Schreibwerkstatt ist verwundert und begeistert ob seiner „Metaphern“, doch dem Dichter selbst ist klar, dass er nicht in Bildern spricht – er erzählt von dem, was er kennt: dem Morden. Auch wenn er vor über 20 Jahren damit aufgehört hat, die Mordtaten selbst, deren Planung und die Abläufe sind ihm sehr präsent. Wie lange noch, das weiß er nicht, denn bei ihm ist Demenz diagnostiziert - und so findet er sich in einem Wettlauf mit der Zeit und dem Vergessen wieder, denn er hat einen Mann getroffen, der den gleichen Blick auf die Welt hat. Einen anderen Serienmörder, Byongsu Kim ist sich sicher und er scheint ein Auge auf seine Tochter geworfen zu haben. Er setzt alles daran, ihm zuvor zu kommen.

Dieser kurze Roman ist ganz großes Kino. In kleinen, tagebuchartigen Sequenzen erzählt Serienmörder Byongsu Kim von seinem Alltag, der zunehmend von der Demenz bestimmt wird. Aber auch, in lakonischer Sprache und ohne Beschönigung, von den Toten und dem Morden. Die Suche nach Identität, nicht nur, aber auch hervorgerufen durch die immer größer werdenden Gedächtnislücken, gepaart mit menschlichen Abgründen im scheinbar Normalen – das ist faszinierend zu lesen und gibt lange Stoff zum Nachdenken.

Kim Young-Ha: „Aufzeichnung eines Serienmörders“, Cass-Verlag, Übersetzung Inwon Park, 978-3-944751-22-1, € 20,00

Schnörkellos

Ruth Weiss kommt nach ihrer Großmutter, beide lieben das ruhige, strukturierte Leben, klare Absprachen, gutes Essen. Ruth liebt das Lesen – ihre Eltern liebt sie auch, doch diese sind irgendwie gefangen in ihrer eigenen Welt: ihre Mutter ist Schauspielerin, der Vater Buchhändler und beide scheinen niemals erwachsen zu werden. Mit dem Tod der Großmutter beginnt eine seltsame Spirale aus Abhängigkeit und Ablösung, angetrieben auch durch Haushälterin Maggie, die zur seltsam unpassenden Freundin der Mutter wird. Ruths Suche nach sich selbst und der Liebe wird immer auch verstärkt durch die Literatur und ihren großen Hang zu Balzac. Sind es die Tugendhaften, die irgendwann mit einem guten Leben belohnt werden – oder sind gelingt dies im Gegensatz dazu den Halbseidenen, Bösewichten, denjenigen, die ohne Disziplin oder Moral durchs Leben ziehen?

Vergessen Sie den Klappentext! In diesem Roman ist Ruth Weiss überhaupt nie vierzig Jahre und ob die Literatur ihr Leben ruiniert oder nicht – das zu beurteilen überlässt die Autorin Anita Brookner uns Leser*innen; sie beschreibt lediglich sehr genau Ruths Leben, ihr Fühlen und ihr Tun. Eigentlich passiert nicht viel in diesem Buch. Stattdessen verhandelt es große Themen wie Liebe und Verantwortlichkeit sehr berührend und durchaus amüsant.

Anita Brookner: „Ein Start ins Leben“, Eisele Verlag, Übersetzung: Wibke Kuhn, 978-3-961610-71-6, € 12,00

unsere Belletristik-Lieblinge in 2020:
Einmal ums Ijsellmeer

Von allen Menschen, die sie kennt, weint sie selbst am wenigsten. Aber jetzt muss Atlanta echt die Zähne zusammenbeißen, aus voller Fahrt vom Rad zu stürzen, das ist nicht ohne. Und dass der Junge, der sie zu Fall gebracht hat, jetzt auch noch blöd fragt, ob sie sich wehgetan hat, das ist doch wohl die Höhe. Sie jedenfalls braucht sein Mitleid nicht. Es reicht schon, dass sie der ganzen Schule leidtut! Genau deswegen fährt sie ja diese Tour, 133 km an einem Tag und einer Nacht, um zu zeigen, was sie alles kann. Trotz der Krankheit ihrer Mutter. Finley hingegen will einfach nur weg. Und hat nur die beiden Haifischzähne mitgenommen, die seine Mutter ihm in guten Zeiten als Talisman geschenkt hat. Notgedrungen fahren sie zusammen – man kann keine so lange Strecke in die gleiche Richtung fahren, ohne sich zusammenzuraufen. Auch wenn man sich eigentlich ziemlich blöd findet …

Die beiden haben jeder kein kleines Päckchen zu tragen. Und sie sind beide keineswegs nur arm dran oder nur nett. Gerade das macht Anna Woltz‘ Buch so besonders, Atlanta und Finley sind eigentlich ganz normal Kinder, denen „nur“ ziemlich unnormale Sachen zugestoßen sind. Wie gut das Miteinander tun kann, das lernen die beiden bei ihrer ungewöhnlichen Reise – auch wenn danach trotzdem nicht alles gut ist. „Haifischzähne“ ist ein großartiges und feines Buch für Menschen ab 10 Jahren.

Anna Woltz: „Haifischzähne“, Carlsen Verlag, Übersetzung Andrea Kluitmann, 978-3-551-55515-1, € 10,00


Drei Generationen

Anastasia – Ana - ist erst zwölf, als sie aus Breslau flüchten müssen, sie, die beiden Geschwister und Mutter Käthe. In Bayern angekommen ist sie es, die Verantwortung für die kleine Familie übernimmt – Käthe ist gefangen in den Ereignissen der letzten Kriegsjahre. Jahrzehnte später ist es Anastasia, die ihre Tochter Lilith dazu überreden möchte, das Kind ihrer Freundin aufzunehmen: Kinder sind das wichtigste im Leben, sagt sie. Doch wie kann sich Lilith sicher sein, wo sie selbst sich doch nie als wichtig im Leben der Mutter gefühlt hatte? Lilith, die im Augenblick lebt, weil alles davor und danach schwer zu ertragen ist? Kurzentschlossen nimmt Ana sie mit auf eine schmerzhafte, erhellende Reise nach Breslau.

„Nebelkinder“, das sind die Kinder der Kriegskinder. In Friedenszeiten großgeworden, jedoch mit einem diffusen Gefühl von „da ist irgendwas“, welches genährt wird durch die Sprachlosigkeit der Eltern- und Großelterngeneration. Stefanie Gregg beschreibt in ihrem emotionalen Roman unterschiedliche Lebensentwürfe, die so miteinander verwoben sind, dass sich für alle drei viel verändert, wenn erst einmal der Faden der Wahrheit aufgegriffen wird. „Nebelkinder“ sind, auf die ein oder andere Weise, übrigens sehr viele von uns …

Stefanie Gregg: „Nebelkinder“, Aufbau Verlag, 978-3-7466-3592-7, € 12,00
Ralf Schwob empfiehlt: Aufruhr am Niederrhein

Was wie eine Kindheitsidylle anfängt, wandelt sich zu einem facettenreichen Entwicklungsroman, in dessen Mittelpunkt eine der großen energiepolitischen Auseinandersetzungen der BRD in den siebziger Jahren steht. Der schnelle Brüter, das AKW in Kalkar, dessen Bau eine ganze Region spaltete, wurde schließlich trotz aller Proteste fertiggestellt, aber dann nie in Betrieb genommen. Die Bauten des AKWs dienen heute als Freizeitpark.

Die Kindheit bzw. frühe Jugend des Ich-Erzählers fällt genau in die Hochphase der Auseinandersetzungen um den Bau des AKWs. Das Dorf spaltet sich in Gegner und Befürworter und der Konflikt reißt tiefe Gräben zwischen Nachbarn und sogar in der eigenen Verwandtschaft auf. Der Dorf-Junge, dessen Vater ein vehementer Befürworter der Kernkraft ist, fühlt sich zunehmend zu einem bunten Haufen junger Leute hingezogen, die auf dem Acker eines Bauern, der gegen das AKW ist, campieren und dort alternative Lebensformen ausprobieren. Er lernt bei ihnen die etwas ältere Juliane kennen und verliebt sich heftig in sie. Am Ende steht die, historisch verbürgte, Großdemo gegen das AKW und die Räumung des Lagers.

Christoph Peters erzählt die Geschichte des Jungen auf drei Zeitebenen. Die erste Ebene der Kindheit ist eine heile Welt aus Fernsehserien, Abenteuerbüchern, Nachbarsdackeln und Fußballeridolen. Auf der mittleren Ebene zerbricht diese Welt, beginnt die politische Bewusstwerdung, die Rebellion gegen die Eltern. Die dritte Ebene schließlich ist die der Heimkehr des erwachsenen Erzählers, der verwundert feststellen muss, dass das verhasste Dorf und die gealterten Eltern dennoch so etwas wie Heimatgefühle in ihm auslösen. Die eigene Herkunft wirkt in einem fort, ob man das nun möchte oder nicht.

Christoph Peters: „Dorfroman“, Luchterhand Verlag, 978-3-630-87596-5, € 22,00

(K)ein Liebesroman

Tick. Tack. Die biologische Uhr tickt immer lauter für Laura, Ende dreißig. Auch wenn ihre Mutter ihr nahezu täglich Infos über Frauen schickt, die weit in den Vierzigern noch Mütter geworden sind – für Laura ist das keine Option. Zumal eh‘ kein Mann in der Nähe ist. Und sie eigentlich auch keinen Mann will, die Liebesgeschichten bisher waren nicht sooo vielversprechend. Also gibt sie kurzerhand ein Inserat auf, „Suche Mann für Co-Elternschaft“ und schon bald prüft sie „Bewerber“. Das kann sie ziemlich gut, beruflich macht sie nichts anderes. Wobei das nun wieder nur bedingt hilfreich ist, denn sie kann gar nicht ohne Fragenkatalog. Und sie weiß sehr genau, wo der Hase im Pfeffer liegt, oft, bevor es der Hase weiß. Beziehungsweise der Co-Elter. Natürlich kommt es ganz anders als geplant …

Sophie Passmann und Jasmin Schreiber – wenn diese beiden eine positive Wertung geben, dann kann auch die Buchhändlerin mal die Nase in ein Buch stecken, das sie  eher weniger interessiert. Und ja: die beiden haben recht. Julia Zweigs Roman ist hochkomisch und überhaupt nicht peinlich (könnte er sein, bei dem Thema, finde ich), dabei erstaunlich realistisch. Mit einem Unterton von gelingendem Miteinander. Sehr schön.

Julia Zweig: „Glück. Allein.“, Verlag Droemer, 978-3-426-28242-7, € 14,99

Danke, dass es dich gibt, Tagebuch.

Das ist der erste Eintrag, den Fanny Cloutier in ihrem Tagebuch macht. Und dann beginnt sie zu erzählen. Vom bevorstehenden Wutanfall ihres Vaters, weil sie ein von ihm geliebtes Buch zerschnitten hat – aber die Textzeile „Schreiben bedeutet, lautlos zu schreien“, die brauchte sie einfach fürs Tagebuch! Und überhaupt ist er selbst schuld. Wenn er nicht zum Erfinderwettbewerb nach Japan fahren würde und gleich ein paar Monate wegbleiben und sie diese Zeit in der absoluten Provinz bei der unbekannten Tante verbringen soll, dann müsste Fanny auch kein Tagebuch führen um sich abzureagieren. Aber da er fährt … Nun ja. Schreibt oder zeichnet sie alles, was sie beschäftigt in das schöne rosa Buch mit den dicken Seiten.

„Das Jahr, in dem mein Leben einen Kopfstand machte“ ist ein ganz besonderes Buch für jugendliche Leserinnen. Nicht nur (aber auch), weil die Geschichte spannend und voller Emotionen und Geheimnisse ist. Sondern weil es tatsächlich wie ein Tagebuch daherkommt: Mit unterschiedlich gestalteten Einträgen, vielen Bildern, verschönernden Akzenten und sogar eingeklebten Zusatzseiten. Am Ende weiß Fanny sehr viel genauer, wer sie ist – und das große Familiengeheimnis ist außerdem gelöst.  

Stéphanie Lapointe: „Fanny Cloutier – Das Jahr, in dem mein Leben einen Kopfstand machte“, Illustration: Marianne Ferrer, Übersetzung: Anne Braun, Loewe Verlag, 978-3-7432-0764-6, € 16,95

Wie neu

Es sind eher die ruhigeren Typen, die hier zu Wort kommen. Diejenigen, die sich ihrer Haut wehren müssen und das eigentlich gar nicht möchten. Oder die loyal sind, obwohl die Situation eher an Aufbruch gemahnt. Viel Schwimmbad kommt vor, besonders Sprungtürme, und immer wieder Fußball. Fotografien vergangenen Lebens, Menschen mit Geschichten, die schon lange nicht mehr zählen, alte Muster und die Schnittstelle zwischen Jung und Alt. Aber vor allem: Egal was in diesen Kurzgeschichten passiert, wir Leser*innen haben stets eine sehr klare Vorstellung vom Innenleben der Personen. Denn der Autor Ralf Schwob kennt seine Charaktere sehr genau und vermag es, deren Gefühle darzustellen, ohne viele Worte zu verlieren.

„Erste Schritte, letzte Wege“, so heißt der Erzählungsband, den die Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde gerade herausgegeben hat. Darin versammelt sind Erstveröffentlichungen, bereits erschienene Geschichten, preisgekrönte Kurzprosa des Groß-Gerauer Autors Ralf Schwob. Es sind Texte, die uns Leser*innen teilhaben lassen am Erwachsenwerden und an großen Lebensumbrüchen – sie hallen lange nach.

Ralf Schwob: „Erste Schritte, letzte Wege“, Justus von Liebig Verlag, 978-3-87390-439-2, 14,80 €


Bauernhof II

Sie sind ein eingespieltes Team auf dem Hof in tausend Metern Höhe mitten im Nirgendwo. Paul bewirtschaftet die Felder, seine Schwester Nicole versorgt den Haushalt, die beiden Onkel den Garten. Alle zusammen kümmern sie sich um das Vieh. So kommen sie gerade über die Runden. Aber Paul weiß sehr genau, dass er nicht so enden will wie die Onkel und fast alle Bauern im Dorf, grummelig, mit chaotischem Haushalt und erhöhtem Bierkonsum. Also gibt er eine Annonce auf: „Landwirt, sanft, sechsundvierzig, sucht junge Frau, die das Land liebt.“ Ob Annette das Land wirklich liebt, das weiß sie nicht. Aber sie weiß sehr genau, dass sie raus muss aus ihrem alten Leben, wegen sich und auch wegen Èric, ihrem elfjährigen Sohn. Und so trifft man sich, zwei Mal, und dann zieht Annette zu Paul in die Wohnung über dem Stall. Sie will ankommen dort, heimisch werden. Doch ob allein der Wille hilft?

Dies ist ein außergewöhnliches Buch. Sehr zurückhaltend erzählt, in eigenwilligen Sprachmustern, die die Beschreibungen greifbarer machen. Marie-Hélène Lafon hat viel Herz für ihr Personal, allen voran für Paul, Annette und Éric, die sich willig - aber mühsam - zusammenruckeln, aber auch für Nicole und die beiden Onkel, die nun gerade keine Sympathieträger sind. „Die Annonce“ ist ein großer Roman auf wenigen Seiten.

Marie-Hélène Lafon: „Die Annonce“, Übersetzung: Andrea Spingler, Rotpunktverlag, 978-3-85869-888-9, € 22,00, eBook, € 17,99

Bauernhof I

Auguste ist 63 Jahre und fest verwurzelt auf ihrem Bauernhof in Bayern. Sie bewirtschaftet ihn alleine, mit reichlich Sachverstand und Hingabe zu Tieren und Umwelt. Doch leider – ohne finanziellen Erfolg. So kommt es, dass ihr ein Mahnschreiben der Hausbank mindestens genauso zusetzt, wie der Großbauer, der aggressiv immer wieder Angebote für die Übernahme des Hofs macht. Und irgendwie häufen sich auch die Dramen, erst spielt jemand der Katze übel mit, dann ist der Hahn am Milchtank offen und die ganze Milch fließt über den Hof. Als ihr aus heiterem Himmel der Begriff „Gummistiefelyoga“ einfällt und es dann auch noch einen indischen Neupfarrer im Dorf gibt, Indien, das Land des Yoga und des Glücks, wertet sie das als Zeichen und beschließt, auf dem Hof Auszeitwochen anzubieten …

Klamaukig aber auch dramatisch, dazu ein wenig hintergründig. Und eindeutig sehr viel mehr Gummistiefel als Yoga – Felix Tanner hat mit „Gummistiefelyoga“ einen Roman geschrieben, der in ganz andere Welten entführt, gut unterhält und dabei durchaus Szenen hat, über die man ein bisschen länger nachdenken kann. Und das ist nicht nur was für die Urlaubszeit.

Felix Tanner: „Gummistiefelyoga“, Piper Verlag, 978-3-492-31564-7, € 10,00, eBook € 8,99

Freundschaft

Carl und Artur könnten unterschiedlicher nicht sein: Carl hat zwar gute Noten, den Klassenfieslingen aber nichts entgegenzusetzen. Artur hingegen ist stark für zwei und froh, die Rechenaufgaben bei Carl abschreiben zu dürfen. Gleichwohl sind die beiden beste Freunde – und es ist Artur, der die ungewöhnlichsten Ideen hat und mit Bauernschläue zu Geld kommt. 1910 lernen die beiden dann noch Isi kennen, jüngste Tochter des Lehrers Beese. Isi, die mit allen Wassern gewaschen ist, keine Angst zu kennen scheint und für jeden Spaß zu haben ist. Besonders, wenn man damit Geld machen kann. Und da plötzlich alle Welt Angst vor dem Halley‘schen Kometen hat, gelingt den drei ein besonderer Coup, an dessen Ende sie glauben, genug Geld für ein eigenes Leben zu haben, das völlig anders ist als das, dass sich ihre Familien vorstellen. Doch stattdessen beginnt der erste Weltkrieg, die beiden Jungs finden sich an unterschiedlichen Orten in der Armee wieder. Und Isi eckt mit ihren fortschrittlichen Ansichten einmal zu oft an …

Die Kollegin schrieb: „Ich hab‘s hemmungslos verschlungen und finde es lebendig, sehr spannende und auch interessant – sowohl die historischen Hintergründe als auch das Soldatenleben. Sehr kräftige „Farben“, die Zwischentöne überliest man fast …  Viel Gefühl, auch wenn Schicksal, Gewalt und Drama überwiegen.“

Andreas Izquiero: „Schatten der Welt“, Dumont Verlag, 978-3-8321-6498-0, € 16,00  BELLE

Nach der Wahl

David und Ellie sind geschockt von der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten – sie haben anderes erwartet, auch wenn sie in ihrem Stadtviertel durchaus den Eindruck hatten, dass Hillary Clinton viel Gegenwind hat. Sie suchen Trost in einem Treffen mit Freunden, zwei Pärchen wie sie selbst, wohlsituierte, pensionierte Professoren nebst Gattin, die bis vor kurzem in der Nachbarschaft lebten und mit denen sie schon viel erlebt haben. Doch bei diesem Treffen gibt es erste Risse, einer scheint tatsächlich Trump gewählt zu haben. Und in der Nacht dann ein Schock für Ellie: Sie findet menschlichen Stuhlgang im Whirlpool. Von da an sind immer wieder Exkremente dort. Und nach einem Kurzbesuch bei der gemeinsamen Tochter eskaliert die Situation … Dass die Freunde sich in der Zwischenzeit vollkommen verkracht haben und es keine gemeinsame Basis mehr zu geben scheint, macht alles nur schlimmer.

Richard Russos „Sh*tshow“ hat nur etwas mehr als 60 Seiten und ist doch weit mehr als eine Kurzgeschichte – der Text verbindet Politik mit Alltäglichkeiten, zeigt, wie mit „wenig“ Schmutz viel schmutzig gemacht werden kann. Und offenbart die Risse, die sich, nicht nur in Amerika, quer durch die Bevölkerung ziehen und das Miteinander schwierig machen.

Richard Russo „Sh*tshow“, Dumont Verlag, Übersetzung: Monika Köpfer, 978-3-8321-8144-4, € 10,00

Klug

Lily Brett ist ziemlich zufrieden, als ihr Friseur, zu dem sie seit über 30 Jahren geht, ihr erzählt, dass sie eigentlich die einzige Kundin wäre, die sich noch nie „was hätte machen lassen“ – bis er vage auf ihren Mund deutet und meint, da wäre ein Lifting ganz angemessen. Galina hingegen scheint zufrieden mit sich zu sein, jedenfalls macht sie beim ersten Zufallstreffen in der U-Bahn diesen Eindruck. Und sie fährt Dreirad, was Lily Brett ihr gleich nachmacht. Wie es ist, ständig Kalorien zu zählen, wenn der Ehemann alles essen kann, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen – da können einige mitfühlen … Und dass es vernünftig ist, die eigene Beerdigung zu planen, kann wohl jeder nachvollziehen. Noch vernünftiger wäre nur, so dabei zu sein, dass man aufpassen könnte, ob auch alles gut läuft.

„Alt sind nur die anderen“, so lautet der Titel dieses schmalen Buches mit 24 Kolumnen der begnadeten Erzählerin Lily Brett. Detailreich und pointiert berichtet sie aus ihrem Alltag: Das ist wunderbar zu lesen, sehr unterhaltsam und weise. Vermutlich wäre Brett alles andere als glücklich über die Bezeichnung „altersweise“ – das kann uns Leser*innen allerdings völlig egal sein.

Lily Brett: „Alt sind nur die anderen“, Suhrkamp Verlag, Übersetzung: Melanie Walz, 978-3-518-42946-4, € 15,00

Ralf Schwob empfiehlt: Junger Mann zum Mitreisen gesucht …

Wenn eine Geschichte so beginnt, dass ein schüchterner Jugendlicher in der österreichischen Provinz der 70er Jahre sich in die deutlich ältere Frau des coolsten Dorf-Truckers verliebt, dann hat man ja schon so eine Ahnung, wie das weitergehen und enden wird – zumal auch der Klappentext genau in diese Richtung zu weisen scheint. Noch dazu scheint die Angebetete dem Werben des übergewichtigen Jungen nachzugeben, unternimmt Spazierfahrten mit ihm und lässt sich von ihm Englisch beibringen, wenn ihr bärbeißiger Gatte mal wieder mit dem LKW in Südosteuropa unterwegs ist. Etwa in der Mitte des Romans aber nimmt der wortkarge Mann den eingeschüchterten Jungen in seinem Laster mit nach Griechenland, damit der ihm dort Frachtpapiere übersetzten kann, und hier beginnt ein ganz andere Geschichte, die weder der junge Mann noch die Leserschaft so erwartet haben dürften …

Wolf Haas‘ Roman besticht durch eine unnachahmliche Mischung aus Wortwitz, Humor und Tiefgang, wie sie auf diese Art und Weise fast nur bei Autor*innen aus Österreich zu finden ist. Was wie eine konventionelle Liebesgeschichte beginnt, wandelt sich zu einem verrückten Road-Trip, an dessen Ende vieles anders ist, als man anfänglich geglaubt hat … Für den jugendlichen Protagonisten der Geschichte genauso wie für die Leserschaft.

Wolf Haas: „Junger Mann“, Verlag Hoffmann und Campe, 978-3-455-00858-6, € 14,00, eBook € 9,99

„Schreib doch mal ein vernünftiges Buch“

So beginnt Jerome K. Jeromes köstliches Tagebuch „Zwei Mann auf Pilgerfahrt“. Im Vorwort erklärt er von einem Bekannten gebeten worden zu sein, ein „vernünftiges Buch“ zu schreiben – und so berichtet er über einen Besuch in Deutschland. Genauer gesagt beginnt er damit, den Kalender zu prüfen, festzustellen, dass er Tante Emma entgehen kann, um sich dann, gemeinsam mit Freund B., auf die lange Zugfahrt zu begeben. Mitsamt Müdigkeit, schlechter Verständigung, Kaffee und Brötchen. Ziel ist eine Theatervorstellung, zu der sie noch nicht einmal Freikarten haben, eine Unvorstellbarkeit, und dazu noch mitten in der Provinz: Sie wollen die Passionsfestspiele in Oberammergau besuchen.

Jerome K. Jerome mochte Deutschland und die Deutschen sehr, er ist mehrfach durch unser Land gereist. Genau das macht einen großen Reiz dieses Buches aus: Er beschreibt die Gegenden und unsere Eigenarten mit genau dem gleichen leichten Spott, mit dem er auch dem eigenen Land und den Landsleuten begegnet. Das ist ausgesprochen köstlich zu lesen! Gerade auch, wenn man Mark Twains „Bummel durch Europa“ kennt (das nur etwas mehr als eine Dekade älter ist) und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede entdecken kann. Ich plädiere übrigens fürs laute Vorlesen …

Jerome K. Jerome: „Zwei Mann auf Pilgerfahrt“, Übersetzung: Alexander Pechmann, Verlag Jung und Jung, 978-3-99027-237-4, € 22,00, eBook € 17,99
  
Im Schlafzimmer blühende Obstgärten

Diesen Satz legt Camilo Sánches Johanna von Gogh-Bonger in den Mund, bzw. er lässt sie ihn in ihr Tagebuch eintragen, in den letzten Pariser Monaten, sie meint damit eines der Bilder dort. Ihr Mann Theo van Gogh schwankt zwischen Lethargie und einer überbordenden Aktivität: Er möchte mit allen Mitteln eine große Ausstellung ebendieser Bilder seines Bruders Vincent in einer der Galerien platzieren. Doch das gelingt ihm nicht, die Wucht der Bilder und ihre unglaubliche stilistische Vielfalt überfordern die Galeristen. Die Trauer um seinen Bruder und die Absagen bringen Theo über den Rand seiner Belastbarkeit – und damit auch Johanna, die sich in steter Sorge um ihn aufreibt und wegen des gemeinsamen Sohnes versucht, gleichzeitig ein halbwegs normales Leben zu führen. Theo wird seinen Bruder nur wenige Monate überleben. Johanna van Gogh-Bonger hingegen gelingt es, mit Fleiß, großer Sorgfalt und einem unglaublichen Gespür für den richtigen Zeitpunkt, Vincent van Goghs Werke bekannt zu machen …

„Die Witwe der Brüder van Gogh“ ist ein schmales Buch, keine 180 Seiten hat es. Die Sprache ist eher knapp, die Tagebucheinträge dazwischen hingegen oft bildhaft, gerade wenn es um Beschreibungen von van Goghs Gemälden geht. Camilo Sánchez gelingt es, den Maler nicht zu überhöhen und trotzdem als das Genie darzustellen, das er war – und doch ist Johanna van Gogh-Bonger in diesem Roman eindeutig die (sehr faszinierende) Hauptperson. Sehr lesenswert.

Camilo Sánchez: „Die Witwe der Brüder van Gogh“, Übersetzung: Peter Kultzen, Unionsverlag, 978-3-293-20725-7, € 10,95, eBook € 8,99    

Überleben

11000 – so viele Meter tief ist der Marianengraben.  Paula weiß das, weil Tim, ihr jüngerer Bruder, der größte Fische- und Ozeanliebhaber war, den man sich nur vorstellen kann. Seit Tim gestorben ist, befindet sie sich selbst dort, weitab von anderen, weitab vom Alltag, weitab jeder Normalität. Die Vorstellung, beim Besuch des Grabes anderen Menschen zu begegnen, findet sie unerträglich: Darum schlägt ihr Therapeut vor, es in der Nacht zu besuchen. Auch wenn das erst einmal absurd klingt, Paula findet sich tatsächlich beim nächsten Vollmond an Tims Grab wieder. Und lernt Helmut kennen, der ein paar Gräber weiter mit dem Spaten zugange ist …

Jasmin Schreiber hat einen bezaubernden Roman geschrieben, in dem es nicht an Humor fehlt – und dass, obwohl die Themenstellung „Verlust eines geliebten Menschen“ alles andere als vergnüglich ist. Paula und Helmut sind ein großartiges, völlig gegensätzliches „Paar“, das sich auf den ersten Blick überhaupt nicht ergänzt, auf den zweiten sehen wir Leser*innen, dass sie einander genau das geben können, was nötig ist: eine Mischung aus Nähe und Distanz, flapsige Wortwechsel inklusive. Eines meiner Frühjahr-Highlights.

Jasmin Schreiber: „Marianengraben“, Eichborn Verlag, 978-3-8479-0042-, € 20,00, eBook € 14,99, Hörbuch € 18,00
 
Faszinierende Einblicke

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, die drei Schwestern Barbara, Rosa und Martina, und auch ihre Stellung innerhalb der Familie ist verschieden: Barbara, die Älteste, macht nüchtern ihr Ding. Rosa, die Mittlere ist des Vaters Lieblingskind und eine erklärte Schönheit. Und Martina, Martl, hat irgendwie immer an allem Schuld. Es fängt schon damit an, dass sie wieder kein Junge geworden ist, wo der Vater sich nichts sehnlicher wünscht als einen Jungen. So liebevoll und großzügig wie er mit Röschen umgeht, so jähzornig ist er zu Martl. Es ist ein kleines Glück für sie, dass es in den letzten Kriegsjahren nicht genug Lehrer gibt – so wird sie Lehrerin, ohne studieren zu müssen. Denn studieren darf ein Mädel auf gar keinen Fall, nicht Mitte der vierziger Jahre und nicht bei einem konservativen Vater, dessen Vorstellungen von Familie und Ehe sich sehr mit denen der Nazis decken.

Ursula März hat ein großartiges Porträt ihrer Tante geschrieben: Mit jedem Satz liest man die große Zuneigung, aber auch den Zwiespalt – denn die Patentante ist weder entgegenkommend noch weitherzig. Und doch eine verlässliche Größe im Leben der Autorin. März lässt uns Leser*innen tief blicken in eine Familie, die selbstverständlich vom Vater dominiert ist. In der aber trotzdem alles irgendwie ungewöhnlich ist, bis hin zum letzten Lebensabschnitt des Vaters, der sich ausgerechnet von Martl pflegen lässt. Und bis hin zu Tante Martl selbst, die mit den Jahren auch nicht einfacher wird. „Tante Martl“ ist ein Buch voller feinem Humor und großer Weisheit, rührend, traurig und trotzdem lebensfroh …

Ursula März: „Tante Martl“, Piper Verlag, 978-3-492-05981-7, € 20,00 eBook € 18,99
Ein neuer Noll?

Ja und nein … Ingrid Noll, Kriminalautorin aus Weinheim, ist für ihre hintergründig-ironischen Romane bekannt. Bücher, in denen vieles gegen den Strich gekämmt wird und selten etwas so weitergeht, wie es anfängt. Als Autorin von Kurzgeschichten hatte ich sie bisher nicht auf dem Schirm, obwohl der Nachweis am Ende des Buches Auskunft über einige Anthologien gibt, in denen Texte von ihr veröffentlich wurden. Das hat sich nun geändert, denn im Diogenes Verlag ist ein Buch nur mit Erzählungen erschienen – und ich habe es sozusagen „mit Genuss verspeist“.

„Diebe und Triebe“ lautet der erste Teil und darin sind genau die Geschichten vereint, die „typisch“ Ingrid Noll sind: kriminell, mit ungewöhnlichen Drehungen und erstaunlichem Personal. Der zweite Teil „Lust und Last der Liebe“ vereint tatsächlich Liebesgeschichten, allerdings solche, die fern ab der Romantik sind – großes Vergnügen inklusive. Und so geht es weiter mit tierischen, mythischen und biographischen Geschichten. Nicht alle halten, was das Buch verspricht, aber nahezu alle. Und das ist für eine solche Sammlung ein ziemlich guter Wert …

Ingrid Noll: „In Liebe Dein Karl“, Diogenes Verlag, 978-3-257-07096-5, € 24,00 eBook € 20,99,  CDs € 24,00

Kurze Zeit

Hans Bauer hatte sich vier Monate völlig Auszeit gegönnt. Vier Monate nach acht Jahren durchgehender Rechtsanwaltstätigkeit, vier Monate ohne Nachrichten, nur mit persönlichen Briefen. Als er Ende April 1933 nach Berlin zurückfährt, beginnen schon im Zug die Machtspiele gegenüber den jüdischen Mitbürgern – Bauer ist entsetzt, schweigt aber wie die anderen auch. In Berlin angekommen, gibt es schon größere Veränderungen: Sozius Dr. Schwartz musste seine Zulassung zurückgeben, ein anderer Arzt hatte die Praxis von Dr. Aaron übernommen, beide haben jüdische Wurzeln. Vor allem aber unternimmt die Polizei nichts gegen Taten von SA-Leuten, ganz egal, wie schwerwiegend diese sind. Bauer verschweigt seinen jüdischen Urgroßvater und versucht, unauffällig zu bleiben, merkt aber schnell, dass er sich dann gemein machen muss mit Nazis und SA. Eine sehr gefährliche Zeit beginnt, die er letztendlich nur knapp überlebt.

Felix Joachimson, 1902 in Hamburg geboren, arbeitete einige Jahre als Journalist in Berlin, emigrierte 1933 nach Österreich und Ungarn und 1936 schließlich in die Vereinigten Staaten. Dort verfasste er unter dem Namen Felix Jackson Drehbücher und Romane – „Berlin, April 1933“ ist sein dritter Roman, den er mit fast achtzig Jahren erst veröffentlichte. Es ist ein zutiefst beeindruckender Text, der sehr anschaulich, auf einer sehr nachvollziehbaren, menschlichen Ebene, aufzeigt, wie schnell Hitler sein Regime etablierte und welche perfiden Machtsysteme er dafür nutzte. Ich möchte dieses Buch jedem Erwachsenen in die Hand drücken und sagen: „Lies!“

Felix Jackson: „Berlin, April 1933“, Weidle Verlag, Übersetzung: Stefan Weidle, 978-3-938803-88-2, € 23,00

Unbekannt

Alfred Russel Wallace war Engländer und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Südamerika und Malaysia als Sammler tätig. Während längerer Aufenthalte dort hat er Tausende von Käfern und Schmetterlingen eingefangen und katalogisiert – und dabei ist er immer wieder auf die Schwierigkeit gestoßen, ob etwas eine eigene Art, eine Unterart oder „nur“ eine Variation ist. Über diese Frage kam er der Entstehung der Arten auf die Spur, und zwar vor Charles Darwin, den er in einem Brief über seine These unterrichtete. Trotzdem ist Wallace kaum bekannt, Darwin hingegen kennt jedes Schulkind.

Der Autor Anselm Oelze nähert sich Wallace auf zwei Ebenen: Da ist Wallace selbst, „der Bärtige“, der aus seinem Leben und von seinem Tun berichtet. Und da ist Albrecht Bromberg, der Museumswärter in der Jetztzeit. Durch Zufall wird Bromberg an einem Tag gleich zweimal mit einem Bild von Wallace konfrontiert – das irritiert ihn so, dass er diesem Menschen auf die Spur kommen will.

Oelzes Debutroman über den unbekannten Außenseiter Alfred Russel Wallace ist mit 250 Seiten eher schmal, vor allem aber ist er sprachlich beeindruckende, historisch interessante und überaus kluge Unterhaltung.

Anselm Oelze: „Wallace“, Schöffling & Co., 978-3-89561-132-2, € 22,00, eBook € 17,99, Hörbuch € 22,00

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