unsere Belletristik-Lieblinge in 2024:
Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena
„Mein Vater hatte den Samstag damit zugebracht, das Essen zu planen und sich Sonias, Gretas und Racheles Lieblingsgerichte ins Gedächtnis zu rufen.“ Es ist die mittlere Tochter Giulia, die diese Geschichte erzählt. Vom Sonntagessen, das wegen eines Unfalls ganz kurzfristig abgesagt werden muss. Und vom Vater, der nun überhaupt nichts mit sich anzufangen weiß und auch keine Verwendung für das bereits gekochte Essen für fünf Personen hat. Dazwischen erzählt uns Giulia Alltägliches aus der Vergangenheit und der Gegenwart – übers Familienleben, die Beziehung zu Geschwistern und Eltern, die Arbeit des Vaters. Auch über den Tod der Mutter berichtet sie und wie unterschiedlich jeder trauert. Der Vater jedenfalls macht an diesem Sonntag während eines Spaziergangs Bekanntschaft mit Elena und ihrem Sohn Gaston. Sie kommen nur langsam ins Gespräch, und doch ändert sich für alle drei – und für ihre Familien – durch diese Begegnung nach und nach das ganze Leben.
Es klingt ein bisschen wie schon oft gelesen: An einem dieser wirklich blöden Tage begegnet man Fremden und danach ist alles anders. Fabio Geda erzählt diese Geschichte aber sehr besonders – ohne falschen Ton, mit viele Wahrhaftigkeit und Ruhe, vor allem aber mit einer großen Zurückhaltung gegenüber seinen Figuren. Ich habe das sehr gerne gelesen, es ist wirklich was „fürs Herz“ ohne auch nur einen Hauch von Kitsch.
Verlag hanserblau, Übersetzung: Verena von Koskull, 978-3-446-27060-2, € 10,00
Klaus Wagenbach: Mein Italien, kreuz und quer
Luciano de Crescenzo erzählt von einer Taxifahrt, bei der der Fahrer ihm das Verwarnungsgeld zurechnen wollte – und man weiß nicht so recht, wem man recht geben soll. Umberto Eco singt ein Loblied auf den Nebel, jedes Wort kann ich nachfühlen, Nebel mag ich und habe ihn im Rheintal ja auch oft. Roberto Begnini überlegt, ob Gott die sieben Todsünden aus eigener Erfahrung kennt. Michela Murgia beschwört lebenslange stabile Freundschaften durchs gemeinsame Spiel in der Kindheit. Und für Natalia Ginzburg ist das Tragen von kaputten Schuhen Symptom für ein selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin.
„Mein Italien, kreuz und quer“ ist eines dieser Bücher, die man nicht aus der Hand legen mag. Nicht, weil es besonders spannend ist – sondern, weil es so vielfältig und facettenreich, so erhellend und mitreißend ist. Der Verleger Klaus Wagenbach erkundete in den 1950er Jahren als Student zum ersten Mal Italien; er wollte sich intensiv mit italienischer Kunst beschäftigen, aber auch mit der Politik und der Literatur. Es war der Beginn einer langen Freundschaft, an der er uns mit diesem Buch teilhaben lässt. … Die erste Ausgabe stammt aus 2004, die jetzige dritte Ausgabe aus 2024. Ergänzungen und Änderungen hat, ganz im Sinne des großen Verlegers, Susanne Schüssler zu verantworten.
Mich wird das Buch sicher sehr lange begleiten. So wie italienische Literatur eh‘ schon sehr lange in meine Lesewelten eingezogen ist.
Verlag Klaus Wagenbach, verschiedene Übersetzer*innen, 978-3-83031-2827-0, € 18,00
Rónán Hession: Leonard und Paul
Leonards Welt scheint nach dem Tod seiner Mutter zu schrumpfen. Sie hatten ein gut ausgewogenes Miteinander gehabt, getragen von gemeinsamen Interessen und Zuneigung – nun ist sein Alltag reichlich einsam. Alleinsein macht ihm eigentlich wenig aus (er ist eh‘ ein leiser, nachdenklicher Mensch und auch sein Beruf als Texter für Kinderlexika ist nicht sehr kommunikativ), doch seitdem sie tot ist, findet er sich fast jeden Abend bei seinem Freund Paul ein. Bei Brettspielen erörtern sie wissenschaftliche Problemstellungen während Pauls Mutter lange Telefonate mit seiner Schwester Grace führt, die von eigenen Hochzeitsvorbereitungen vollkommen eingenommen ist. Als Leonard in seinem Großraumbüro Shelley kennenlernt, ist er nicht sicher, ob sie Flirtversuche mit ihm gestartet hat oder wirklich so unbefangen ist. Er beschließt, das herauszufinden … Und auch für Paul ändert sich langsam aber unaufhaltsam alles.
Wer viel Handlung oder große Spannung erwartet, der sollte ein anderes Buch aufschlagen: Leonard und Paul erzählt in mäandernder Sprache vom Lebensalltag zweier Introvertierter, die tiefgründige Gespräche miteinander führen können, weil sie eine verlässliche Freundschaft verbindet. Die aber beide, jeder auf seine Art, erkennen, dass es für ein gutes Leben doch mehr als zwei, drei, vier Personen braucht. Das Ganze hat reichlich Charme, ein bisschen rosa Glitzer – und lässt uns nach der Lektüre mit wohligem Gefühl zurück.
Dumont Buchverlag, 978-3-7558-0500-7, € 14,00
Kira Mohn: Die Nacht der Bärin
Jule flüchtet nach einem heftigen Streit mit ihrem Freund zu ihren Eltern. Ein bisschen graut ihr davor, sich deren Fragen stellen zu müssen – doch es kommt ganz anders. Durch ein Telefonat erfährt ihre Mutter Anna vom Tod der eigenen Mutter, der Oma, die Jule nie kennengelernt hat. Jule überredet sie, deren Haus zumindest zu besichtigen, und so fahren sie gemeinsam los. Eine Reise in die Vergangenheit beginnt, die auch Jules Beziehung beeinflussen wird.
Die zweite Ebene spielt in den ausgehenden 80er Jahren, hier erzählt Jules damals 12-jährige Tante Maja (von der Jule noch nie gehört hat) von wundervollen Stunden voller Phantasie im Wald gemeinsam mit Anna. Und von entsetzlichen Stunden mit dem gewalttätigen, narzisstischen Vater. Als Anna sich in Jan verliebt und Jan sich in Anna, eskaliert die Situation …
Kira Mohn schreibt diese in manchen Stellen schwer erträgliche Familiengeschichte vollkommen nachvollziehbar, und da ist auch kein Wort zu viel. Zwischen den Kapiteln gibt es jeweils Seiten mit nur einem oder zwei Sätzen - alles Sätze, die vor Narzissmus triefen und den Gegenpart klein und unfähig machen. Im ergänzenden Nachwort gibt es sehr genaue Hinweise, wie Abhängigkeiten entstehen und warum es so schwer ist, gewalttätige Beziehungen zu verlassen. „Die Nacht der Bärin“ ist ein herausragendes Buch über Gewalt in der Familie, welches kein bisschen schnulzig ist, auch wenn der Klappentext uns das weißmachen will.
Verlag HarperCollins, 978-3-365-00655-9, € 24,00
Ralf Schwob empfiehlt:
Julia Kröhn: Die Gedanken sind frei
Frankfurt nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Buchhandlung und den Verlag der Familie Reichenbach gibt es noch, aber wegen der Papierknappheit und den strengen Lizenzauflagen der US-Amerikaner liegt das Geschäft brach. Ella, die älteste Tochter, versucht verzweifelt, ihren kranken Vater und ihre kleine Schwester durch die Wirren der Nachkriegszeit zu retten. Die Mutter war noch kurz vor Kriegsende von der Gestapo verhaftet worden, weil sie verbotene Bücher verkauft hatte. Entkräftet von den Misshandlungen der Nazischergen stirbt sie noch vor Kriegsende.
Als Ella zusammen mit der alten Buchhändlerin Hildegard beginnt, literarische Abende zu organisieren, lernt sie den Schauspieler Ari kennen, der aus dem Stehgreif klassische Dramen mitreißend rezitieren kann. Zwischen den beiden jungen Menschen entsteht eine zarte Romanze. Ari gesteht ihr schließlich, dass Ellas Mutter ihn während des Krieges vor den Nazis versteckt hat, was der wahre Grund für ihre Verhaftung gewesen war.
Von Schuldgefühlen geplagt, bricht Ari den Kontakt zu Ella ab, die ihn aber sucht und schließlich auch findet, und zwar im Frankfurter Stadtteil Zeilsheim, wo sich das größte Auffanglager für Juden, die den Krieg und den Holocaust überlebt haben, befindet. Dort erfährt Ella nicht nur, was mit Aris Familie geschah, sondern auch, auf welche Weise die beiden Familie miteinander verbunden sind.
Julia Kröhns Roman ist gehobene Unterhaltungsliteratur, die ein schweres Thema leicht erzählt, ohne ins Banale abzurutschen. Die Mangelwirtschaft nach dem Krieg und die geschichtlichen Besonderheiten in Frankfurt flechtet die studierte Historikerin geschickt in die Liebesgeschichte zwischen Ari und Ella ein.
Blanvalet Verlag, ISBN 978-3-7341-1098-6, € 16,00
Mischa Kopmann: 32. August
Leo verbringt die Sommerferien immer bei den Großeltern im kleinen Haus am Rande des Dorfes. Alles hat feste Rituale und es ist vor allem die Großmutter, die den Tagen Struktur gibt. In diesem Sommer aber ist Leo alt genug, um mit dem Großvater unterwegs zu sein: Mit einem uralten Mercedes reist dieser als Vertreter durchs Land, er hat überall Menschen, die sich auf ihn freuen, und kennt Gott und die Welt. Im Gegensatz zum Leben im kleinen Haus, in dem die Großmutter das Sagen hat, raucht und trinkt er unterwegs, hat eine Zweitwohnung und trifft sich mit Monette. Leo passt sich ziemlich entspannt an das ungewöhnliche Leben des Großvater an, zumal auch für ihn eine Veränderung ansteht - er ist zum ersten Mal im Leben verliebt.
Weil die beiden so gut klarkommen, beschließt die Großmutter, sie für 10 Tage alleinzulassen um ihre Schwester zu besuchen. Anfänglich genießen die beiden den Alltag ohne den "Feldwebel" - doch nach wenigen Tagen läuft alles aus dem Ruder ... Schließlich ist es Leo, der den Großvater wieder auf die Spur bringt und dabei ein gutes Stück erwachsener wird.
Ein Buch wie ein heißer Sommertag ...
Mischa Kopmann lässt Leo in Ich-Perspektive erzählen – und gibt ihm einen wunderbar passenden Tonfall, nicht zu erwachsen und nicht zu kindlich. Mit vielen feinen Beobachtungen gelingt ihm darzustellen, worauf es im Leben ankommt: Liebe und Füreinander-da-sein, Freundschaft und Zuverlässigkeit. „32. August“ ist ein schönes, kluges Buch!
Osburg Verlag, 978-3-95510-356-9, € 20,00
Rüdiger Bertram: Hummer to go
Sich Ferienfotos gegen Entlohnung zeigen lassen – damit hatte Frank eine Marktlücke aufgetan. Er wurde oft genug gebucht um zu expandieren; und nun kümmerte sich Schneider im Hintergrund um Werbung, Akquise und Mitarbeiter. Und auch wenn Frank mittlerweile nahezu alle Ferienorte auf den Fotos erkannte, war er immer noch gerne bei der Kundschaft. Zumindest bei den meisten. Gerhard ging ihm aber doch ein bisschen auf die Nerven, es gab kein Foto, auf dem er nicht posierte. Halt, doch, eines gab es, darauf war eine bildschöne, blonde Frau zu sehen. Wie sich herausstellte, Gerhards Ex, Karin. Für Frank war es Liebe auf den ersten Blick. Am Ende des Termins stibitze Frank in einem unbeobachteten Moment ein Foto Karins von Gerhards Pinwand – denn dass er sie finden und für sich gewinnen musste, das war Frank sofort klar. Keine Woche später war er mit dem Zug in die Bretagne unterwegs. Dass seine Familie ihn für vollkommen verrückt hielt, nahm er für seine große Liebe gerne in Kauf …
Man verfällt Ich-Erzähler Frank schon auf den ersten Seiten: Da sitzt er auf einem Felsen vor der Küste Trégastels und muss warten, bis die Flut zurückgeht, damit er wieder zum Strand spazieren kann. Er denkt über sein Leben nach – lakonisch und mit viel Lust über sich selbst zu lachen teilt er seinem Publikum, also uns, mit, was so alles passiert ist. Wir Leser*innen sind quasi mitten im Geschehen: und werden dabei bestens unterhalten! Ach, und Hugo der Hummer spielt natürlich nicht nur im Titel eine Rolle.
Penguin Verlag, 978-3-328-10876-4, € 12,00
Dominika Meindl: Selbst Stadt, anderer Planet
Seit Johanna zurück im Dorf ist, träumt sie – wilde Träume, die böse enden. Eigentlich hatte es ihr in Wien gut gefallen, doch nun übernimmt sie Knall auf Fall die Praxis des verstorbenen Vaters, samt Haus und dem Durcheinander das darinnen herrscht. Ihre Zwillingsschwester Doris ist nie herausgekommen aus dem Dorf, die Schreinerei ist ihre Passion. Beide lieben es, in den Bergen zu sein und eigentlich kommen sie sowieso gut miteinander aus. Auch Andrej und Maria wohnen gerne hier, sie haben aus ihrem Haus ein richtiges Familiennest für ihre beiden Töchter gemacht. Und dann gibt es noch Herrn Patrick, der in seiner Kindheit schon einige Jahre in Österreich gelebt hat; nun arbeitet er für die chinesischen Tourismusbehörde …
Es sind drei Handlungsstränge, die Dominika Meindl in ihrem Buch kunstvoll miteinander verwebt: Die der Ärztin Johanna, die nach vielen Jahren zurück aufs Dorf zieht und alles mit städtischen Augen sieht; die des Jugoslawen Andrej, der die Strukturen erkennt und sich integriert, aber nie so ganz dazugehören wird. Und die von Herrn Patrick, dessen eigentlichen Namen wir nicht erfahren werden, und der ein Wanderer zwischen den Welten, zwischen China und Österreich ist. Meindl schreibt in Gegenwartsform, jede*r hat eine ganz eigene Stimme. Der Klappentext verspricht „Pseudoidylle, Overtourism, Bauspekulationen – und einen Hauch von ‚Piefke-Saga‘. Ein hochkomischer, kritischer und vor allem hinreißender Roman!“ und besser kann ich das auch nicht beschreiben. Nur ergänzen: Dominika Meindl hat darüber hinaus auch eine sehr beeindruckende Art, Landschaften in Szene zu setzen.
Picus Verlag, 978-3-7117-2144-0, € 22,00
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt
Das fehlende Salz ist der letzte Tropfen … Helene steht vom Tisch auf, geht auf den Balkon und dort einen Schritt zu weit. So beginnt Mareike Fallwickls Buch, das hauptsächlich von zwei Stimmen erzählt wird – der von Helenes fast erwachsener Tochter Lola und der von Helenes bester Freundin Sarah. Beide hätten gedacht, dass sie Helene sehr gut kennen, beide trifft ihr Tod vollkommen unvorhergesehen. Und beide reagieren vollkommen unterschiedlich: Lola kannte Helenes Alltag und die Fallstricke der mütterlichen Zuständigkeit. Sie findet Kameradinnen, Freundinnen, und macht sich mit ihnen auf, dort aktiv zu werden, wo es gegen Frauen geht. Die vier werden zu einer Art solidarischer Kampftruppe. Sarah hingegen sucht nach einem Verständnis des Geschehenen, indem sie Johannes, Helenes Witwer, bei der Versorgung der beiden kleinen Jungs hilft. Denn Johannes scheint das nicht stemmen zu können und das ist ja durchaus verständlich, findet sie. Gerade auch jetzt, wo in der Pandemie das öffentliche Leben sowie die Kindergärten und Schulen nur sehr eingeschränkt funktionieren …
Dieses Buch hat eine wahnsinnige Wucht. Und das, obwohl Mareike Fallwickl nicht ins Detail ausbuchstabiert, was vor sich geht. Jeder Satz, jede Drehung „sitzt“ – wer Verantwortung in der Familie hat (und die muss gar nicht für Kinder sein …) kann nachvollziehen, was Helene fühlte. Und auch, was in Lola und Sarah vorgeht, wie sie reagieren, wie sich die Prioritäten des Lebens verschieben, all das erzählt Fallwickl kompromisslos. Auch wenn Lola und Sarah am Ende des Buches ihre Wege selbstbestimmt und gegen Konventionen wählen – die Wut bleibt.
Das ist keine leichte Kost und sicherlich nichts, was man so nebenbei lesen kann: „Die Wut, die bleibt“ erzählt Frauenleben fast exemplarisch. Das wird mich noch lange beschäftigen.
Rowohlt Verlag, 978-3-499-00912-9, € 14,00
Marie Darrieussecq: Das Meer von unten
Was bedeuten die Geräusche und die Unruhe auf dem Schiff? Es braucht einige Zeit, bis Rose klar wird, dass die Mannschaft sich um ein Boot mit Flüchtlingen kümmert. Mittendrin ein Junge mit intensivem Blick, Rose ist klar, sie muss ihm helfen. Also holt sie das Mobiltelefon ihres Sohnes und ein paar Kleidungsstücke und überreicht alles Younès. Dann muss sie nach ihren Kindern sehen – und Younès wird zusammen mit den anderen Bootsflüchtlingen an die Polizei übergeben. Zurück in Paris, in ihrem Job als Therapeutin, in ihrer Ehe mit einem Mann, der Wein deutlich zu sehr zugeneigt ist. Irgendwann beginnen Younès Anrufe, sie ist ja als Kontakt gespeichert. Und irgendwann kommt er nach Paris …
Marie Darrieussecq lotet sehr genau aus, was es bedeutet, bedeuten kann, ein guter und hilfsbereiter Mensch zu sein. Ihre Rose ist keineswegs mit wehenden Fahnen eine Retterin – aber sie ist eben auch keine, die wegschaut. Sie steckt in dem Zwiespalt, das beste für die eigene Familie zu wollen und gleichzeitig Verantwortung gegenüber Younès zu verspüren. Sie weiß, dass sie nicht beidem gleichzeitig Rechnung tragen kann und sucht trotzdem nach Mitteln und Wegen. Das ist unglaublich klug gemacht und man kommt gar nicht umhin, sich selbst in diese Situation hineinzudenken. Dieser Roman ist ein einziger, sehr gut geschriebener Denkanstoß.
Secession Verlag, Übersetzung: Patricia Klobusicky, 978-3-96639-084-2, € 25,00
Diane Broeckhoven: Ein Tag mit Herrn Jules
Seit Jules in Pension ist, kocht er morgens den Kaffee und Alice wartet derweil in der wohligen Wärme ihres Bettes. Sonst überlässt er den Haushalt gerne ihr, und diese Minuten seines Kümmerns genießt sie sehr. An diesem Morgen sitzt er als sie aufsteht auf der Couch und scheint die Schneelandschaft vor dem Fenster zu genießen. Sie setzt sich neben ihn und legt den Kopf auf seine Schulter – und merkt erst nach einiger Zeit, dass kein Leben mehr in ihm steckt. Der Schreck ist (noch) nicht allzu groß; sie weiß recht schnell, dass sie sich noch nicht trennen, noch keinen Bestatter rufen möchte. Und so lässt sie Jules einfach sitzen. Während die Stunden ins Land gehen, überlässt sie sich den Erinnerungen, auch den weniger schönen …
Wenn die Vertreter*innen kommen, reden wir viel über Bücher, das liegt in der Natur der Sache. Dieses Buch hier hätte ich vermutlich nicht eingekauft – wenn Frau Hölzemann es mir nicht wärmstens ans Herz gelegt hätte, sie kennt es aus der Erstauflage (die war 2005!). Ich kann ihr nur absolut recht geben: „Ein Tag mit Herrn Jules“ ist ein wahrhaftiger und herzerwärmender Roman, dem ich sehr viele Leser*innen wünsche!
Unionsverlag, Übersetzung: Isabel Hessel, 978-3-293-71003-0, € 12,00
Christine Wolter: Die Alleinseglerin
Als Almut nach Jahren der Funkstille wieder mit ihrem Vater zu tun bekommt, hat er eine Hütte am See und ein Segelboot. Sie lernt segeln, tut sich schwer damit, aber es bedeutet immer auch, in seiner Nähe zu sein. Außerdem mag sie das Gefühl von Eigenständigkeit und Freiheit, auch wenn da immer Angst und Unvermögen mit im Boot ist. Als der Vater, der Käpt’n, den Drachen verkaufen will, kauft sie ihn auf Raten ab, nicht ahnend, dass ein Boot sehr viel mehr Kosten nach sich zieht, als es der eigentliche Kauf vermuten lässt. Sie beißt sich durch, mit Kind und oft ohne Partner, sie sucht Material und streicht wochenlang – und findet, zwischen allen Unbilden des Lebens, sich selbst.
Dieser Klassiker der DDR-Literatur mäandert durch die Zeiten; das führt zu ungewöhnlichen Blickwinkeln und Einsichten und macht diesen Roman ganz besonders reizvoll. Es geht natürlich nicht nur ums Segeln, gleichwohl die Beschreibungen dazu viel Raum einnehmen - sprachlich ist das wunderbar leicht und ganz ungewöhnlich. Und, obwohl schon über 50 Jahre alt: Christine Wolters Buch ist überhaupt nicht gealtert!
Nagel und Kimche, 978-3-312-01291-6, € 14,00
Charles Lewinsky: „Rauch und Schall“
Diesmal hatte die Reise nicht geholfen. Bisher war Goethe, wenn er nach Hause zurück kam, angefüllt mit Ideen und Geschichten, er liebte es, all das zu Papier zu bringen. Nur wer etwas erlebt, kann auch schreiben – davon war er fest überzeugt. Doch diesmal hatten die Wochen in der Schweiz nicht geholfen, er saß da, die Feder in der Hand, doch selbst wenn er schrieb, hielt das dem prüfenden Blick am Abend nicht stand. Und im Brief vom Hofmarschallamt war unmissverständlich ein Festgedicht zu Ehren der Herzogin angefordert worden, so bald als möglich. Nur: Goethe hatte wirklich keine Vorstellung, was er schreiben sollte! Christianes Vorschlag, ihren Bruder um Hilfe zu bitten, war eigentlich unter seiner Würde. Eigentlich …
Fast hätte ich das Buch direkt nach den ersten Sätzen wieder zur Seite gelegt: Goethes Hämorrhoiden, mit denen es beginnt, interessieren mich tatsächlich überhaupt nicht. Weil ich den Autor Charles Lewinsky sehr schätze, habe ich weitergelesen – und wurde postwendend belohnt. Die Mischung aus Fiktion und Wahrheit, die Lewinsky hier präsentiert, ist unterhaltsam und absolut interessant. Und sie ist, auch wenn er Goethe, seiner Geliebten Christiane Vulpius und deren Bruder Christian August Vulpius sehr nahekommt, nicht anbiedernd oder despektierlich. „Rauch und Schall“ ist ein großer Lesegenuss: Stilistisch schön, inhaltlich überraschend und genau richtig lang.
Diogenes Verlag, 978-3-257-07259-4, € 25,00
Sally Page: „Das Glück der Geschichtensammlerin“
Janice ist sich sicher – sie hat keine eigene Geschichte. Ja, sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Und ja, ihren Job als Putzfrau scheint sie sehr gut zu erfüllen. Aber das reicht ja nicht! Was ihre Kundschaft erzählt - manches schön, manches traurig, alles wahr - sortiert sie und holt es hoch, wenn sie eine gute Erinnerung nötig hat. In ihrem Alltag gibt es genug Zeiten, in denen das der Fall ist.
Nicht nur wegen dieser Geschichten mag sie die Kundschaft wirklich sehr; alle, bis auf ein snobistisches Ehepaar. Eines Tages wird sie ausgerechnet von der Ehefrau gebeten, sich um die 92-jährige Schwiegermutter zu kümmern. Wie sich herausstellt, will Mrs. B eigentlich keine Hilfe haben – doch irgendetwas bei der zweiten Begegnung lässt Janice vermuten, dass sie irgendwie miteinander klarkommen werden. Bald ist nicht mehr ganz so sicher, wer hier eigentlich wem helfen muss …
Ja, Sally Pages Roman gefällt nicht auf Anhieb: Janice ist distanziert, die Gegenwartsform verstärkt das noch und überhaupt, was scheint das eigentlich für ein vorhersehbares Buch zu sein. Der zweite Blick hingegen überzeugt – denn Janice ist klug und hilfsbereit, reflektiert und zielorientiert. Und hat eben doch eine ganz eigene Geschichte, der sie sich aber erst annähern muss. Eine zarte Liebesgeschichte und überraschende Wendungen gibt’s obenauf: Mit der Geschichtensammlerin verbringt man sehr gerne einige Stunden auf der Couch!
Verlag dtv, Übersetzung Carolin Müller, 978-3423-21879-5, € 14,00