Die wöchentlichen Bücherchecks - 2017 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

Homesymbol

Öffnungszeiten: DI-FR 09:00 - 12:30 | MO-FR 14:00 - 18:30 | SA 09:00 - 13:00 | FON 06258 4242 | FAX 06258 51777 | MESSENGER 0170 234 2006Nutzen Sie unseren Lieferservice und "enttummeln" Sie den Laden. Wir liefern aktuell Di, Do und Sa zu Ihnen nach Hause - sprechen Sie uns an.

Kopfzeilesymbole
Newsletter     Hilfe        tolino Webreader         Öffnungszeiten          Wunschliste           Login / Mein Konto
Stickyhomesymbol
Direkt zum Seiteninhalt

hr-iNFO Bücherchecks in 2017:  

hr-iNFO Büchercheck vom 28.12.2017


Matthew Weiner: „Alles über Heather“
Matthew Weiner ist einer der bekanntesten amerikanischen Drehbuchautoren. Er hat die Serie „Mad Men“ erfunden und damit sieben Staffeln lang international Erfolg gehabt. Jetzt hat der 52-jährigen Weiner seinen ersten Roman veröffentlicht.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
In diesem Roman dreht sich tatsächlich alles um Heather – die Tochter von Mark und Karen Breakstone, zwei relativ wohlhabende New Yorker, die sich spät in ihren Vierzigern kennenlernen, heiraten, und dann ein Kind bekommen, eben diese Heather, ein perfektes, wunderschönes Mädchen, das alle Welt verzaubert. Das erzeugt erste Spannungen, als jedes Elternteil auf seine Weise Heather als Erfüllung ihrer je eigenen Existenz beansprucht; es führt zu Katastrophen, als die Bahnen dieser New Yorker upper-middleclass-Welt von einem Skinhead aus New Jersey gekreuzt werden. Er heißt Bobby, ist bei seiner drogensüchtigen Mutter aufgewachsen, hat wegen versuchter Vergewaltigung im Gefängnis gesessen und erblickt eines Tages, als er für eine Baufirma in Manhattan arbeitet Heather - es ist dieser eine Blick, der gleichzeitig von Heathers Vater registriert wird, der eine Spirale aus Angst und Aggression auslöst, die mindestens eine der beteiligten Personen in den Abgrund reißt – welche- wird natürlich nicht verraten.

Wie ist es geschrieben?
Matthew Weiner erzählt dieses Psychodrama mit minimalistischen aber hochwirksamen Mitteln: Er verschränkt von vornherein die Lebensgeschichten seiner Hauptfiguren – des New Yorker Ehepaars und des Unterschichtenrowdys aus New Jersey. Die Erzählperspektive kann dabei innerhalb eines Absatzes wechseln, aber immer wird aus der Sichtweise einer der Figuren erzählt – wobei wir dann aber merken, dass diese Figuren sich selbst nicht ganz sicher sind, was sie wahrnehmen, was sie denken, dass sie zum Teil widersprüchliche Gedanken haben, dass hinter den Gedanken etwas lauert, das sie selbst vielleicht gar nicht wissen – all das sorgt für eine nervöse Spannung, eine Spannung, die immer Gefahr läuft, sich jederzeit gewaltsam zu entladen:  

„Mark wünschte sich, es wäre bloß sexuelles Verlangen nach seiner Tochter, was er da gesehen hatte, aber gleich darauf wäre er kurz vor einer Bank zusammengeklappt, und er rang nach Luft, da sein Körper begriff, wofür sein Verstand länger brauchte: Der Blick der Arbeiters war so brutal, so gierig gewesen, dass Mark davor geflüchtet war.“

Wie gefällt es?
Matthew Weiner kann einfach sehr, sehr gut erzählen. Er kann mit einfachen, aber präzisen Sätzen Situationen erzeugen, unter deren scheinbar ruhiger Oberfläche ein Abgrund lauert. Das zu lesen, ist spannend, nervenaufreibend und trotzdem großer Spaß. Dieser Roman ist scharfsinnig, im Hinblick auf die inneren Widersprüche seiner Figuren, und unerbittlich, wenn es um die logischen Konsequenzen daraus geht. „Alles über Heather“ ist ein kleines, gemeines Meisterwerk.

Matthew Weiner: „Alles über Heather“, aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben,  Rowohlt Verlag, 16 EUR, ISBN: 9783498094638

hr-iNFO Büchercheck vom 21.12.2017


Orhan Pamuk: „Die rothaarige Frau“
Eine offene Abrechnung mit dem System Erdogan ist dieses Buch nicht. Pamuk ist Literat, nicht Politiker. Wenn er kämpft, dann mit dem Florett, nicht mit dem Schwert. Doch schon den Titel, kann man als libertäre Kampfansage verstehen. Rot gefärbtes Haar offen zu tragen, deutlicher kann man kaum gegen Kopftuch und Ähnliches opponieren. Die Konfrontation von Freiheit und Bevormundung, von Individualismus und Religion zieht sich durch den ganzen Roman.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Buch beginnt in den 80er Jahren. Cem möchte studieren. Dafür braucht er Geld. Sein Vater, Apotheker und linker Aktivist, hat die Familie wegen einer anderen Frau verlassen. Cem verdingt sich bei einem Brunnenbauer. Nachdem er seine erste Liebesnacht verbracht hat, mit einer rothaarigen Schauspielerin, fällt Cem der Eimer runter und dem Brunnenbauer auf den Kopf. Cem haut einfach ab. Denkt, der Meister sei tot. Er studiert, heiratet. Die Ehe bleibt kinderlos. Aber das Paar ist wirtschaftlich erfolgreich, gründet eine Immobilienfirma, die auch dank korrupter Politiker floriert. Die Firma kauft auch das Gelände, wo 30 Jahre zuvor der Brunnenbau stattfand, und will es bebauen. Aus dem Dorf ist längst ein Teil Istanbuls geworden. Eine völlig neue, zubetonierte Welt.  Cem trifft die rothaarige Frau wieder, die sich als Geliebte seines Vaters entpuppt. Und er stößt auf seinen unbekannten Sohn, Ergebnis der damaligen Liebesnacht. Keine glückliche Beziehung. Der Sohn hat völlig andere Ideale als der Vater.

„Mit ihrem Individualismusfimmel sind unsere Eliten weder Individuen geworden noch sonst etwas Eigenständiges. Weil sie sich für etwas Besonderes halten, glauben sie nicht an Gott. Für sie ist das ein Beweis dafür, dass sie nicht sind wie die anderen. Nur sagen sie das nicht so. Im Glauben dagegen steckt, dass man genauso ist wie alle anderen. Die Religion ist das Paradies und der Trost aller Bescheidenen.“

Wie ist es geschrieben?
Der Roman besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil geht es um die Brunnenbaugeschichte. In poetisch dichten Bildern kristallisiert er den Wertekanon einer untergegangenen Zeit heraus. Im zweiten geht es, dreißig Jahre später, um den rasanten Wandel des Landes und seiner Sitten. Im dritten Teil wird die Geschichte aus der Perspektive der rothaarigen Frau erzählt und in die Gegenwart der Türkei eingebettet. Die Teile haben ein gemeinsames Thema: den Vater-Sohn Konflikt. Pamuk lässt ihn schicksalhaft erscheinen, unausweichlich. Mal tötet der Sohn den Vater, mal der Vater den Sohn. Man darf das wohl als Parabel auf die Zustände in der Türkei heute verstehen: Erdogan und Atatürk, Religion und Aufklärung, Tradition und Fortschritt.

Wie gefällt es?
Pamuk ist ein großartiger Erzähler. Beobachtend, reichhaltig, sinnlich. Er verknüpft Realität und Mythen, macht die Wurzeln der Gegenwart im Archaischen deutlich. Er bezieht nicht offen Position. Aber die kunstvollen Verknüpfungen geben Spielraum für manche Interpretation. Großartig.  

Orhan Pamuk: „Die rothaarige Frau“, Hanser Verlag, 22 EUR, ISBN: 978-3446256484

hr-iNFO Büchercheck vom 14.12.2017


Carlos Spottorno & Guillermo Abril: „Der Riss“
Auf der einen Seite: teure Grenzzäune, modernste Technik, Schiffe, Flugzeuge und enormer Personalaufwand. - Auf der anderen Seite: Menschen, die auf der Flucht sind, die Wohlstand oder einfach nur Sicherheit suchen. Das ist „Der Riss“, den die EU-Außengrenze markiert. Und der Fotograf Carlos Spottorno und der Journalist Guillermo Abril haben ihn eingefangen – in Fotografien und Texten, die Hintergrundinformationen, Statistiken und reflektierende Kommentare liefern.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat die Graphic Novel gelesen.

Worum geht es?
Spottorno und Abril sind von Melilla, der spanischen Enklave in Marokko, in den Norden Finnlands gereist – ab 2013 über drei Jahre hinweg, von der Süd- bis an die Nordgrenze der EU. Sie waren unter anderem im größten permanenten Flüchtlingslager auf Sizilien – und waren bei einer Seenotrettung von 200 Flüchtlingen im Mittelmeer dabei.
Spottorno und Abril verlieren sich nicht in Einzelschicksalen, sondern zeigen auf, wie das Grenzregime Europas organisiert ist und wie es als großes, umfassendes System funktioniert. Sie verknüpfen die vielen Meldungen, die wir aus den Nachrichten kennen, und zeichnen ein dichtes Bild vom großen Ganzen: von einem Europa, das in einer tiefen Krise steckt, das inzwischen selbst von vielen feinen „Rissen“ durchzogen ist – verursacht von nationalistischen und populistischen Tendenzen.

Wie ist es geschrieben?
Die Machart ist ungewöhnlich und irritiert. Denn in dieser vermeintlichen „Graphic Novel“ wurde nicht ein einziger Strich gezeichnet. Spottorno hat seine Fotografien statt dessen kräftig eingefärbt und die Konturen verstärkt, so dass die Fotos aussehen wie Zeichnungen. Viele Bilder gehen einem nicht mehr aus dem Kopf: das syrische Mädchen z.B., das gerade aus dem Flüchtlingsboot gehoben wird, der junge senegalesische Mann, der seit Jahren im selbstgenähten Planen-Zelt lebt, oder die Soldaten der finnischen Grenzschutztruppe, denen bei Minus 30 Grad der Atem gefriert. Finnland verzeichnete durch die Flüchtlingskrise einen Bevölkerungszuwachs von mehr als 800%.

„Eine afghanische Familie und zwei Kameruner sind dicht gedrängt in einem Lada angekommen. Es sind seltsame Reisegefährten. Wir dürfen nicht mit ihnen sprechen, so will es das europäische Recht. Sie lassen sich vor der Grenze fotografieren. Ihre Gesichter, die warme Kleidung, der Koffer und der Schnee um sie herum sprechen für sich. Es ist, als schaue man in einen Spiegel. Wer sie anblickt, sieht in Wirklichkeit die Welt, die wir sind.“

Wie gefällt es?
Dieses Buch geht an die Nieren. An ihren Stationen entlang der EU-Grenze stoßen Spottorno und Abril immer wieder auf die „europäische Schizophrenie“ - unser moralisches Dilemma: zwischen Abschottungspolitik und Menschlichkeit. Ein Buch, das man sich anschauen sollte. Vielleicht gerade dann, wenn man denkt, das man in den Nachrichten schon alles gesehen hat.

Carlos Spottorno & Guillermo Abril: „Der Riss“, Avant-Verlag, 32 EUR, ISBN: 978-3-945034-65-1

hr-iNFO Büchercheck vom 07.12.2017


Friedrich Ani: „Ermordung des Glücks“
„Die Ermordung des Glücks“ spielt in München, Hauptperson ist Ex-Kommissar Jakob Franck. Er hat die besondere Begabung, verständnisvoll und einfühlsam Todesnachrichten zu überbringen. Trotz Pensionierung darf er das weiterhin – und so gerät er in den Fall eines vermissten elfjährigen Jungen, dessen Leiche nach 34 Tagen gefunden wird.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Lennard Grabbe ist tot, seine Mutter Tanja verliert ihren Halt, ihren Lebensmittelpunkt, verliert auch endgültig den Kontakt zu Vater und Ehemann Stephan. Sie dreht durch, ein wenig Beistand findet sie bei ihrem Bruder, doch eigentlich existiert diese Familie seit der Todesnachricht nicht mehr. Das Glück, so sagt es ja auch der Titel des Buches, ist ermordet worden. Ex-Kommissar Jakob Franck hat diese entsetzliche Nachricht in die Familie gebracht. Er will wissen, wer Schuld hat an diesem Tod, an diesem Unglück, das zunächst so gar keine Spuren hinterlassen hat, kein Indiz, keinen Hinweis.

Wie ist es geschrieben?
Autor Friedrich Ani ist ein Meister der Psychologie: mit Ex-Kommissar Franck vertieft er sich in die Tiefen und Untiefen aller Personen, die sich um den nun toten Jungen bewegt haben. Er beleuchtet die Mutter, den Vater, einen Onkel, Nachbarn und vermutliche Augenzeugen des Mordes. Ein ungeheuer tiefgehendes Psychogramm von Personen –zum Beispiel von der Mutter Tanja Grabbe.

„Wenn sie ihn an diesem Abend ansah, hatte Franck den Eindruck, jenes Ewige Licht, das er hin und wieder in den Augen von Angehörigen als Beweis der unzerstörbaren Verbindung zu einem geliebten, toten Menschen wahrzunehmen meinte, sei in den Nächten ihrer eisigen Einsamkeit erloschen und kein Gebet, kein Lebensfreund, keine Zeitenwende könnten es je wieder entfachen.“

Wie gefällt es?
Friedrich Ani schreibt keine Thriller, keine atemlosen, aktionsgeladenen Krimis. Er ist der Autor für die leisen Töne, für die Hintergründe, die Melancholie, für die dunklen Seiten. Und die hat in diesem Fall fast jede und jeder: die Mutter, der Vater, der Onkel, niemand ist hier ohne Schuld, ohne wirklich verantwortlich zu sein an diesem so unglückseligen Tod eines elfjährigen Jungen. Es geht um Geheimnisse, das Schweigen, das Leiden, und ja, am Ende natürlich um das Unglück, das alle miteinander teilen. Trotzdem hat mich der Krimi „Ermordung des Glücks“ fasziniert, weil er nicht verzweifelt, eben nicht unglücklich macht, sondern schildert, dass Zufälle zum Verschwinden des Glücks führen können.

Friedrich Ani: „Ermordung des Glücks“, Suhrkamp-Verlang, 20 EUR, ISBN: 9783518427552




hr-iNFO Büchercheck vom 30.11.2017


Edward Docx: „Am Ende der Reise“
Der britische Autor Edward Docx ist Journalist und Kritiker und hat bisher vier Romane veröffentlicht. Sein erster, „Der Kalligraph“, ist bisher auf Deutsch erschienen. Dieser Roman hat Lust gemacht auf mehr Bücher von Edward Docx, und so ist in diesem Herbst Edward sein jüngster Roman auch gleich auf Deutsch erschienen. Der Titel: „Am Ende der Reise“

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Am Ende der Reise“ ist ein Reiseroman. Aber zugleich auch ein Familienroman, denn diese Reise ist eine besondere: Louis’ Vater hat ALS und fährt mit seinem Sohn im schepprigen Familien-VW-Bus von London nach Zürich, um dort mit Hilfe der Organisation Dignitas einen begleiteten Suizid zu begehen. Unterwegs steigen noch Louis’ ältere Zwillingsbrüder zu, und im Laufe der folgenden Tage erleben die vier Männer einige kleiner Abenteuer, die sie zusammenschweißen. Und sie erfahren jede Menge intensiver Momente mit den anderen und sich selbst.

Wie ist es geschrieben?
Man könnte denken, das sei ein trauriger oder dunkler Roman. Aber das Gegenteil ist der Fall: „Am Ende der Reise“ funkelt nur so vor Lichtblicken! Edward Docx schreibt flüssig, farbig, witzig, sehr pointiert. Fast alles Traurige oder Pathetische bricht er ironisch auf. Es gibt ernste Szenen, was aber überwiegt, sind die witzigen. Die komischen Erzählungen und Situationen, die mit einem bitteren Familienhumor gespickten Erinnerungen. Und vor allem die absurden und bis zum Zynischen reichenden Dialoge unter den Brüdern.

„Was ist mit dir?“ frage ich. „Mit wem bist du zusammen?“
„Mit jedem. Mit allem. Mit niemandem.“
„Wie fühlt sich das an?“
„In geschlechtlicher Hinsicht sehr befriedigend. In intellektueller Hinsicht erfüllend. In spiritueller Hinsicht einsam.“
„Vielleicht bist du einfach ein frustrierter Monogamist.“
„Das hab ich auch schon ausprobiert. Fühlt sich an wie Sterben…..Dad, wie fühlt sich Sterben an?“

Wie gefällt es?
Es wird sehr viel geredet in diesem Roman – was sollen die Männer sonst auch tun auf ihrer Fahrt? At his best ist Edward Docx in den Dialogen. Die sind schlagfertig, scharfsinnig, spitzfindig, komisch. Oft vieldeutig, manchmal aggressiv, dann wieder sehr behutsam. Da geht es um alles, um Leben und Tod, Liebe und Glück, Zufriedenheit und Identität. Mir kommt Edward Docx’ Roman vor wie eine an langen Seilen hin und her schwingende Hängebrücke. Man blickt in den Abgrund – aber die Heiterkeit der Sprache und der spielerische Umgang mit den großen Themen tragen uns über diesen Abgrund hinweg.

Edward Docx: „Am Ende der Reise“, Kein & Aber, 25 EUR, ISBN: 9783036957654

hr-iNFO Büchercheck vom 23.11.2017


John Banville: „Die blaue Gitarre“
Oliver Orme ist eine bizarre Existenz. Er war Maler, ist aber an seinem Anspruch, das Wesen der Welt zu malen, gescheitert. Er hatte eine Familie. Aber seine Tochter ist gestorben, und seine Frau hat er verloren, weil er sie betrogen hat. Mit seiner Freundin klappt es auch nicht. Er hatte sie einem Freund ausgespannt. Überhaupt ist er Kleptomane. Nichts ist vor ihm sicher. Das Klauen hat für ihn eine erotische Dimension. Wie gesagt, ein bizarrer Typ. Eigentlich scheitert er immer an der Realität.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Es geht wie so oft in John Banvilles Romanen um Schein und Sein, um Realität und Fiktion, um das Trügerische in der Welt. Was ist echt, was ist Täuschung? So ist es auch bei Oliver Orme. Sein Selbstbild und die Wirklichkeit, die Innen- und die Außenwelt passen nie zusammen. Er ist ein Egoist, wenn nicht ein Narzisst. Er ist hocheloquent. Daher gelingt ihm der Selbstbetrug so gut. Er kann sich gut rausreden. Man muss ihm, dem Ich-Erzähler, eine Weile folgen, um dann Seite um Seite seine Bodenlosigkeit zu erkennen und am Ende seine Lächerlichkeit. Er, der meinte mit seiner Kunst den Durchblick auf den Kern der Welt zu schaffen, hat gar nichts begriffen. Er hat sich als Opfer stilisiert und war doch immer Täter.

Wie ist es geschrieben?
Wenn dieser gescheiterte Ich-Erzähler sein wahres Wesen hinter einer glitzernden Sprache verbergen kann, dann liegt das am Autor, der ihm diese Sprache verleiht. John Banville ist ein Wortkünstler. Bestechend eloquent, geradezu artistisch und elegant, bildmächtig. Mit wenigen Sätzen baut er gewaltige Stimmungen auf. Zum Beispiel, wenn er seinen Protagonisten einen Traum erzählen lässt.

„Ein Sturm zog auf, und vom dem Fenster unten im Parterre sah ich eine unglaubliche hohe Flut heranrollen; die riesigen Wellen, schwerfällig von der Last des aufgewühlten Sandes, überstürzten sich in ihrem wilden Drang, das Ufer zu gewinnen, und warfen sich krachend gegen die niedrige Kaimauer. Ihre Kämme waren von schmutzig weißem Gischt gekrönt, und ihre tief gekehlten, glatten Unterseiten hatten einen glasig-bösen Glanz. Sie sahen aus wie wetteifernde Hundemeuten, die eine nach der anderen angerast kamen, wutschnaubend, mit weit aufgerissenem Rachen, wie toll, und immer wieder und mit voller Wucht zurückgeschleudert wurden in die Fluten(…..) Ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat und warum mich dieser Traum verfolgt, seit ich im Morgengrauen schweißgebadet daraus hochgefahren bin. Ich mag solche Träume nicht, solche wirren, bedrohlichen, bedeutungsschwangeren Träume voll unerklärlichen Zeichen.“

Wie gefällt es?
„Die blaue Gitarre“ ist ein ausgesprochen künstlerisches Buch. Es hat keine spannende Handlung. Ich glaube,man muss es sich erschließen. Mir ist das über die Sprache John Banvilles und die gekonnte Übersetzung gelungen. Es ist ein Buch für stille Winterabende, aber kein Schmöker, sondern ein Buch zum Genießen für Leser mit Lust auf kunstvolle Sprache.

John Banville: „Die blaue Gitarre“, Kiepenheuer&Witsch, 22 EUR, ISBN: 9783462050257

hr-iNFO Büchercheck vom 16.11.2017


Uwe Timm: „Ikarien“
Uwe Timm ist ein Schriftsteller, der die Untersuchung der deutschen Vergangenheit immer wieder mit der Erkundung der eigenen Familiengeschichte verbindet. So auch in seinem neusten Roman „Ikarien“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
In „Ikarien“ rekonstruiert Uwe Timm die Geschichte von Alfred Ploetz, dem Großvater von Uwe Timms Ehefrau. Er war Mediziner und im 19. Jahrhundert zunächst ein begeisterter Sozialutopist. Als solcher besuchte die sogenannten „Ikarier“, eine Kommune im amerikanischen Iowa. Wieder in Deutschland wandte sich Plötz der Rassenforschung zu und wurde schließlich zum Stichwortgeber für den Massenmord der Nazis an Kranken und Behinderten im Namen der sogenannten Rassenhygiene. Was lässt einen Idealisten und Utopisten zum furchtbaren Mediziner werden, an welchen Punkt schlägt Idealismus in Menschenverachtung um – das sind die Leitfragen dieses Romans.

Wie ist es geschrieben?
Uwe Timm erzählt aus der unmittelbaren Nachkriegsperspektive, er erzählt aus der Sicht eines jungen deutschstämmigen US-Soldaten, der den Auftrag erhält, im zerstörten Deutschland die Forschungsergebnisse des Eugenikers Ploetz zu sichern. Diese Figur des Michael Hansen – wie er heißt – erlaubt es Uwe Timm, die Geschichte in klar konturierten, spannungsvollen Gegensatzpaaren zu erzählen – da ist sein Freund George, der sich bald auf das Beobachten von Vögeln beschränkt und deren Vielfalt als Gegenentwurf zum Einheitsdenken der Nazis begreift. Und da ist Wagner, der ehemalige Weggefährte von Ploetz, der zum überzeugten Sozialisten wurde und die Alternative zu NS-Ideologie vom Recht des Stärkeren so formuliert:

„Nein, es sind gerade die Schwachen, die von der Unvollkommenheit wissen, es sind die Schwachen, die in sich die Hoffnung tragen, dass die dumpfe, vor Kraft und Blut dampfende Natur nicht im Recht ist. … Es sind nicht die in Saft und Kraft Stehenden, sondern die Verstümmelten, die an sich und dieser Welt Leidenden, die das Licht der Erkenntnis mit sich tragen. Die Schwachen sind die Starken, weil sie nach Gerechtigkeit verlangen.“

Wie gefällt es?
Ikarien ist ein Roman, den ich mit großer Spannung und teilweise auch mit Bestürzung gelesen. Zu erfahren, mit welcher Überzeugung sich Mediziner gegen jedes Mitleid immunisiert haben, wie sie Kinder und Hilfsbedürftige im Dienste einer Ideologie ermorden ließen und auch nach dem Kriegsende teilweise immer noch der Euthanasie das Wort redeten, ist schockierend. Teilweise war mir dabei die Gegenüberstellung von Gut und Böse allerdings zu schematisch.
Und trotzdem, es ist ein Buch, das genau zeigt, wie eine Einstellung, die nur das Wohl des Volkes und nicht das Schicksale der Einzelnen im Blick hat, zwangsläufig in die Unmenschlichkeit führt. Insofern auch ein Buch, das sehr aktuell ist und dem ich viele Leser wünsche.

Uwe Timm, „Ikarien“, Kiepenheuer und Witsch, 24 Euro, ISBN:  9783462050486


hr-iNFO Büchercheck vom 09.11.2017


Lindsey Lee Johnson: „Der gefährlichste Ort der Welt“
Lindsey Lee Johnson hat mal Schülern Nachhilfe gegeben. Einem Interview zur Folge dort, wo jetzt ihr erster Roman angesiedelt ist. Dieser Job ist die Brücke zu ihrem Roman. Er hat offenbar einen realen Hintergrund.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Mill Valley, ein Kleinstädtchen nördlich von San Francisco, wenige Kilometer von der Golden Gate Bridge entfernt. Eine wohlhabende Gegend. Geld, Häuser, Autos, Essen aus dem Biomarkt sind die Norm. Die Erwachsenen haben gute Jobs. Aber der Roman  geht um ihre Kinder. Aber das Besondere ist, dass diese Kinder asozial aufwachsen. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie. Meinen, die Kreditkarte reiche aus. Andere verstehen ihre Kinder einfach nicht. Narzissten, ohne Empathie. Dave ist eines dieser verunsicherten und gezeichneten Kinder:

„Seine Eltern wussten bestimmt, was richtig war. Mit dem Leben musste es irgendetwas auf sich haben, was er noch nicht ganz verstand: es musste irgendeinen Grund geben, warum das unscheinbare Leben, das er sich vorstellte, nicht in Ordnung war. Vielleicht stimmte es ja, dass Dave einfach noch nicht wusste, was er wollte und das Glück, das er ersehnte, sich ihm so lange entziehen würde, bis er lernte, von Höherem und Besserem zu träumen.“

Die Kinder Hängen im Netz ab, hängen an oberflächlichen Reizen, an Konsum und Drogen, mobben sich. Vermeintliche Freundschaften von In-Groups halten die kleinsten Belastungstests nicht aus. Einer bringt sich um, andere geraten aus der Spur, wieder andere flüchten sich in gesellschaftliche Randgruppen. Der gefährlichste Ort ist einer, in dem die oberflächlich betrachtet hochattraktive Umgebung zu einer seelenlosen Hülle geworden ist und das Internet zur abgründigen Ersatzheimat. Am Ende ist es eine virale Kampfzone, in der sich die Kinder und Jugendlichen gnaden- und bedenkenlos fertig machen mit Fotos, Videos und Beschimpfungen. Schon eine Liebesoffenbarung kann in diesem Milieu eine Treibjagd in Gang setzen. Gerade erst erwachsen, sind sie alle schließlich vom Leben bereits gezeichnet.

Wie ist es geschrieben?
Johnson steigt voll ein in ihre Geschichte, mit dem Selbstmord eines Achtklässlers, der in einem Schulaufsatz zuvor die ganze Tristesse unter der Dunstglocke seines Wohnorts beschreibt. Dann macht sie einen Zeitsprung von ein paar Jahren und erzählt, wie es mit den Überlebenden weiter geht, pro Kapitel eine andere Person. Das Besondere: sie findet eine Sprache für diese Kinder und Jugendlichen. Das macht die Geschichte so realistisch.

Wie gefällt es?
Das Buch ist gut lesbar. Es ist spannend zu erfahren, wie sich die Charaktere entwickeln, wie der Tod des Mitschülers, den sie alle mitzuverantworten haben, ihr Leben beeinflusst. Und es ist schockierend zu lesen, wie sich eine Generation entwickeln kann, wenn ihr Leben von Netz und Konsum bestimmt wird und zu Hause keine Werte mehr vermittelt werden. Dass das manchmal ein wenig holzschnittartig ist – ok.

Lindsey Lee Johnson: „Der gefährlichste Ort der Welt“, dtv-Verlag, 21 EUR, ISBN: 978-3423281331

hr-iNFO Büchercheck vom 02.11.2017


Jan Costin Wagner: „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“
Der Titel „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ von Jan Costin Wagner hört sich kompliziert und nicht unbedingt nach einem Krimi an, ist aber einer.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Finnland, Turku, es ist heiß. Ein junger Mann steht nackt im Brunnen mitten auf dem Marktplatz, ein Messer in der Hand. Die Polizei wird gerufen, Petri Grönholm nähert sich vorsichtig dem Mann. Dieser fängt an, sich selbst mit dem Messer zu verletzen, geht plötzlich auf den Polizisten zu. Da schießt Grönholm, und der junge Mann ist tot. Grönholm ist erschüttert, er kann sich im Nachhinein nicht erklären, warum er zur Waffe gegriffen hat. Und will nun unbedingt wissen, was mit dem Mann, Sakari sein Name, los war. Grönholm bittet seinen Kollegen Kimmo Joentaa  um Hilfe. Kimmo sucht Sakaris Familie auf. Er erfährt nach und nach von einer dramatischen Verstrickung zweier benachbarter und befreundeter Familien. Sakari hatte schon in seiner Jugend psychische Probleme und ohne Absicht großes Unheil in die Nachbarsfamilie gebracht. Kimmo sieht, wie zwei Familien an diesem Unglück zerbrochen sind, und kann doch nicht verhindern, dass es weitere Tote gibt.

Wie ist es geschrieben?
Aus der Perspektive vieler verschiedener Menschen wird eine ungemein traurige, am Ende aber auch versöhnliche Geschichte erzählt. Jan Costin Wagner hat eine klare, manchmal fast nüchterne Sprache, doch er schreibt ungeheuer feinfühlig und warmherzig.

„Die Sonne brennt, denkt Joentaa vage, das Lied, das aus dem Fernseher dringt, scheint von Feuern zu erzählen. Die Sonne brennt, denkt Joentaa noch einmal, er weiß nicht, woher der Gedanke kommt.
„Am Ende war es die Sache mit Emma, die ihn nicht mehr losgelassen hat“, sagt Sakaris Mutter. „Er konnte das nicht mehr zuordnen…“
Sie ist so beherrscht, denkt Joentaa. So traurig und so beherrscht. Weil es anders nicht zu ertragen ist.“

Wie gefällt es?
Es ist vielleicht ungewöhnlich zu sagen, aber Jan Costin Wagner schreibt einfach schön. Einige Sätze sind wie Perlen, die man sich immer wieder ansehen will. Ich habe mich in dem Buch wohlgefühlt, trotz der menschlichen Dramen, die dort beschrieben werden. Weil das Buch Wärme ausstrahlt, und diese Wärme ist besonders zu finden in den Szenen mit Kimmo und seiner Tochter, die für Kimmo und damit auch für mich das reine Glück waren, abseits all des Elends, das es trotzdem gibt. Ein Glück, das Kimmo in dem Lachen seiner Tochter findet. Ein Krimi, und doch kein Krimi. Ein Drama, eine Tragödie, eine überaus menschliche Geschichte.

Jan Costin Wagner: „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“, Verlag Galiani Berlin, 20 EUR, ISBN: 978-3869710181




hr-iNFO Büchercheck vom 26.10.2017

Thomas von Steinäcker, Barbara Yelin: „Der Sommer ihres Lebens“
Die zentrale Frage dieses Buches dürfte an jedem von uns rühren: Hatte ich ein glückliches Leben? Würde ich es nochmal genau so leben wollen?

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat die Graphic Novel gelesen.

Worum geht es?
Gerda Wendt ist um die 80 und streift mit ihrem Rollator durchs Altersheim. Sie hat viel Zeit zum Nachdenken und erinnert sich an ihr früheres Leben. Schon als junges Mädchen  ist Gerda an Zahlen und Sternen interessiert und wird eine angesehene Astrophysikerin - und das in den 60er Jahren! Aber eines Tages steht sie vor einer  wichtigen Entscheidung: zwischen ihrer Liebe zu Peter und ihrer Liebe zu den Sternen und der Mathematik. Sie wählt Peter, einen Musiker und Freigeist, der nicht bereit ist, mit ihr nach Cambridge zu gehen. Sie gibt ihre Karriere auf – und bekommt mit ihm ein Kind.
Das hinterfragt Gerda jetzt im Alter: Hätte sie doch nach Cambridge gehen sollen? Was hätte Sie womöglich   alles entdeckt? - im All, in den großen Welt-Formeln? Es geht in „Der Sommer ihres Lebens“ aber nicht darum, irgend jemandem Schuld zuzuschieben – Peter zum Beispiel, der Gerda später auch noch betrügt. Es geht darum, wie Gerda die Tatsache bewältigt, dass sie mal ein pulsierendes, aktives Leben hatte – und bald gar kein Leben mehr haben wird.

Wie ist es geschrieben?
In dieser Graphic Novel dominieren die Bilder, es gibt nur wenig Kommentartext und auch das Gesagte in den Sprechblasen ist reduziert auf das Wesentliche. Die Geschichte bezieht ihre Spannung vor allem aus der Gegenläufigkeit von junger und alter Gerda: Während die eine vom Kind zur Frau wird, die immer selbstbestimmter agiert, wird der Wirkungskreis der alten Gerda immer kleiner. Sie ist mehr und mehr darauf angewiesen, dass andere sie betreuen: sie wecken, waschen, ihr Essen zubereiten. Das Einzige, was Gerda bleibt: viel Zeit – und ihre Erinnerungen.
Die große Qualität dieser Graphic Novel liegt darin, wie mühelos und originell Barbara Yelin es schafft die verschiedenen Gerdas, also die verschiedenen Zeitebenen, innerhalb eines einzigen Bildes ineinander übergehen zu lassen.

Wie gefällt es?
Gerda steht am Ende ihres Lebens, auf der Zielgeraden sozusagen. Aber sie ist weder weinerlich noch verbittert. Das ist angenehm. Ein gutes Beispiel, das uns der Schriftsteller Thomas von Steinäcker da gibt, ohne anmaßend zu sein. Dazu passt der grafische Stil der Bilder hervorragend: Getupft in Aquarell, wie Erinnerungen, fließen die Farben ineinander – „traumhaft“, leicht, dominiert von Grün und Blau. Die Zeichnungen – Figuren, Häuser – sind skizzenhaft. Sie muten mit ihren vielen Linien selbst mehrdeutig und „suchend“ an. So wie Gerda auch in ihren Erinnerungen sucht, ihren Lebensweg befragt.
„Der Sommer ihres Lebens“ ist ein durchweg stimmiges Gesamtwerk. Poetisch, leichtfüßig und hintersinnig gibt diese kleine und „leise“ Graphic Novel erhellende Antworten auf die ganz großen Fragen. - Und am Ende versteht man auch, was mit dem „Sommer ihres Lebens“ wirklich gemeint ist.   

Thomas von Steinäcker, Barbara Yelin: „Der Sommer ihres Lebens“, Reprodukt Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783956401350


hr-iNFO Büchercheck vom 19.10.2017


Daniel Kehlmann: „Tyll“
Seit wenigen Tagen ist er im Buchhandel:  der neue Roman von Daniel Kehlmann. Wie sein Welterfolg „Die Vermessung der Welt“ ist „Tyll“ ein historischer Roman. „Tyll“ spielt in der Zeit des Dreissigjährigen Krieges. Seine Hauptfigur heißt „Tyll Ulenspiegel“ – Ähnlichkeiten mit dem mittelalterlichen Narr Till Eulenspiegel sind nicht zufällig, wenn auch historisch nicht ganz korrekt.

hr-iNFO-Büchercheckerin Hardwiga Fertsch-Röver hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Tyll ist der Sohn eines Müllers irgendwo in Süddeutschland zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Sein Vater Claus Ulenspiegel betreibt seine Mühle mehr schlecht als recht, die Dorfbewohner schätzen ihn aber auch als Wunderheiler und Kenner von Zaubersprüchen.

„Am Kopfende des Tisches spricht der Müller über Sterne. Seine Frau und sein Sohn und seine Knechte und die Magd tun, als würden sie zuhören. Es gibt Grütze (...) Im Fenster hält eine dicke Scheibe den Wind ab, unter dem Herd, der zu wenig Wärme abstrahlt, balgen sich zwei Katzen, und in der Ecke der Stube liegt eine Ziege, die eigentlich drüben im Stall sein müsste, aber keiner mag sie hinauswerfen, denn alle sind müde, und ihre Hörner sind spitz. Neben der Tür und um das Fenster sind Pentagramme eingeritzt, der bösen Geister wegen.“

Die angebliche Zauberkunst des Vaters erregt den Verdacht der Hexenverfolger, die ihm den Prozess machen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Sein Sohn Tyll, der sich selbst das Jonglieren und Seiltanzen beigebracht hat, flieht mit der Bäckerstochter Nele aus dem Dorf. Als Gaukler schlagen sie sich durch das vom Krieg zerstörte Land, treffen auf wahre und erfundene Figuren. Schließlich wird Tyll Hofnarr bei Friedrich V., dem Kurfürsten der Pfalz, der mit seinem Anspruch auf den böhmischen Thron den Dreissigjährigen Krieg anzettelte, und fortan als Winterkönig verspottet durch die von Territorialkämpfen und Religionskriege verwüsteten Lande reist.

Wie ist es geschrieben?
Daniel Kehlmann zieht uns ganz nah hinein in die Atmosphäre der damaligen Zeit. Der Trick des Erzählers: Gaukler Tyll schwebt irgendwo dazwischen, ist überall und nirgendwo. Und macht dabei das, was ein Narr zu tun hat: er hält den Menschen einen Spiegel vor und lacht sich dabei ins Fäustchen. Kehlmann hat sich gehütet, die Sprache der Zeit nachzuahmen. In seinen Schilderungen schwingt der Sound mit von Grimmelshausens Simplicissismus und den Märchen der Brüder Grimm, dennoch bleibt die Sprache klar und distanziert.

Wie gefällt es?
Der Roman „Tyll“ hat mir das überraschende Leseerlebnis beschert, dass mir eine ziemlich schreckliche und grausame Epoche ganz nahe rückte, ich mich aber dennoch dabei bestens unterhalten habe. Es macht Spaß, dem spannungsreich komponierten Erzählreigen mit wechselnden Perspektiven und sich kreuzenden Handlungssträngen zu folgen. Wieder ist Daniel Kehlmann das Kunststück gelungen, einen historischen Stoff  in ein großes Lesevergnügen zu verwandeln.

Daniel Kehlmann: „Tyll“, Rowohlt, 22,95 EUR , ISBN 978-3498035679

hr-iNFO Büchercheck vom 12.10.2017


Marie NDiaye: „Die Chefin“
Marie NDiaye ist 1967 in Frankreich geboren, sie ist schwarz, sie hat in den letzten Jahren in Berlin gelebt, und sie ist eine der großen zeitgenössischen Autorinnen Frankreichs. 2009 erhielt sie den Prix Goncourt, die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs. Mit ihrem neuen Buch, „Die Chefin“, erzählt sie die Geschichte einer sterngekrönten Köchin und kehrt so gewissermaßen ins Herz Frankreichs zurück.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Es geht nicht um Küchenfolklore, auch nicht um gastronomisches Tamtam. Es geht um eine Persönlichkeit, die Chefin eben. Erzählt aus der Perspektive eines Mitarbeiters, der gleichzeitig Verehrer und verhinderter Liebhaber ist und, wie sich im Lauf des Buches herausstellt, mit der Tochter der Chefin ein Kind hat. Der Erzähler hat also keine neutrale Perspektive, im Gegenteil. Er ist alles andere als verlässlich, wenn nicht sogar zwielichtig. Das macht einen Reiz des Buches aus. Und die Chefin? Sie ist einerseits eine verschlossene Person, die die Einsamkeit ihrer Küche sucht. Andererseits ist sie in ihrem Beruf eine Getriebene. Kochen ist für sie eine Berufung und Herausforderung. In ganz kleinen Verhältnissen aufgewachsen, muss sie in jungen Jahren als Dienstmagd in einer Privatküche arbeiten. Dort kommt sie buchstäblich auf den Geschmack. Sie kocht so einfach wie es geht, puristisch, bemüht, den Eigengeschmack der Produkte herauszuarbeiten. Aber doch im Geschmackserlebnis so raffiniert und überraschend, dass es die Kunden sogar verstören kann.

„So entsprang etwa die Lammkeule im grünen Mantel ihrem Wunsch, das erlesene Pauillac-Lamm in seiner ganzen Unmittelbarkeit genießen zu lassen, ebenso wie den Belleville-Sauerampfer mit seinem herben Geschmack, den sie sich weigerte unter Sahne oder Butter zu verbergen. Dazu gab sie Spinat, sie mochte den Dreiklang der Zutaten, sie schmorte die mit bitterem Grün ummantelte Lammkeule ganz sanft und stundenlang, die schön fetten Säfte des Fleischs milderten den Sauerampfer, und das Lamm wurde so zart und zugleich so kräftig im Geschmack, dass dieser Kontrast, jugendliche Zartheit und reifer Geschmack, die Essenden bei den ersten Bissen verstörte, die Chefin amüsierte sich darüber.“

Wie ist es geschrieben?
Der Roman hat eigentlich keine Handlung. Er könnte also langweilig sein. Aber er lebt von der Mehrdeutigkeit, die sich aus der Erzählperspektive des erfolglos sie liebenden Mitarbeiters ergibt. Man kreist mit dem Erzähler ständig um die Chefin, folgt ihrem Leben. Im Verlauf der über 300 Seiten ergeben sich immer wieder neue Details. Das Buch lebt von der Sprache NDiayes. Der Text wird getragen von einem ruhigen, tief atmenden Rhythmus und von eindrucksvollen, ja impressionistischen Bildern. Manche Sätze ziehen sich über eine halbe Seite, sammeln Beobachtungen, Gefühle, Eindrücke und Stimmungen. Ein dichter Text.

Wie gefällt es?
Hier wird’s individuell. Man kann sich an der Konstruktion des Buchs mit seinen Mehrdeutigkeiten des Erzählens begeistern, auch an der kunstvollen Sprache. Man kann aber auch genervt sein von diesem kreisenden Erzählen oder auch gelangweilt sein von der Handlungsarmut. Ich fand dieses Buch über die Genialität einer Köchin immer wieder faszinierend. Man muss sich nur drauf einlassen - wie auf ein Gericht mit unbekannten Aromen.

Marie NDiaye: „Die Chefin“, Suhrkamp Verlag,  22 EUR, ISBN: 978-3518427675

hr-iNFO Büchercheck vom 05.10.2017


Leila Slimani: „Dann schlaf auch du“
Leila Slimani wird als shooting Star der französischen Literaturszene gefeiert. Ihr Roman „Dann schlaf auch du“  führt uns nach Paris, zu einem gut situierten Paar. Nach dem zweiten Kind will  Myriam wieder arbeiten gehen – also sucht sie zusammen mit ihrem Mann Paul nach einer Nanny. Sie finden die perfekte Lösung: Louise macht sich schnell unentbehrlich.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Schon in den ersten Sätzen ist klar, wie die Geschichte endet: die beiden Kinder Adam und Mila werden sterben, und Louise ist ihre Mörderin. Die  Nanny hat versucht, sich nach der Tat das Leben zu nehmen, hat allerdings überlebt. Der Rest ist Rückblick: Myriam und Paul leben glücklich zusammen, doch Myriam fühlt sich nach der Geburt des zweiten Kindes immer mehr eingeengt  und will wieder arbeiten. Sie stellen Louise ein, die so liebevoll mit den Kindern umgeht, und dazu noch aufräumt, putzt und kocht. Nach kurzer Zeit geht nichts mehr ohne Louise, Myriam und Paul konzentrieren sich auf ihre Karrieren und genießen das Leben. Die kleinen Zeichen, die darauf hindeuten, dass mit Louise nicht alles in Ordnung ist, werden ignoriert. Weil  ein Leben ohne Louise das gesamte Lebenskonstrukt zum Einstürzen bringen würde.

Wie ist es geschrieben?
Leila Slimani hat für das Buch „Dann schlaf auch du“ im vergangenen Jahr den wichtigsten französischen Literaturpreis erhalten – sie schreibt beiläufig, fast banal, und deckt dabei doch meisterhaft die Tiefen und Untiefen der Charaktere auf: da sind Myriam und Paul, die sicherlich ihre Kinder lieben, aber auch ihre beruflichen Erfolge schätzen. Die immer freundlich und fast freundschaftlich zu Louise sind, aber sich kein bisschen für sie und ihr Leben interessieren. Und da ist Louise selbst, ihre Ehe gescheitert, ihr eigenes Kind abgehauen – sie ist abhängig von ihrer Arbeit in einer fremden Familie und setzt alle ihre Energie daran, perfekt zu sein. Und Mila und Adam, die Kinder, lieben sie, trotz ihrer Strenge:

„Sie bringt ihre Lippen dicht an Milas Ohr und sagt mit ruhiger, eisiger Stimme: „Lauf nie wieder weg, hörst du. Willst du, dass dich jemand klaut? Ein böser Mann? Das ist es, was nächstes Mal passieren wird. Dann kannst du schreien und weinen, so viel du willst, niemand wird kommen.“ Louise will das Kind gerade wieder absetzen, da spürt sie einen heftigen Schmerz in der Schulter. Sie schreit und versucht das Kind wegzustoßen, dessen Zähne sich tief in ihr Fleisch graben. Mila beißt sie bis aufs Blut und klammert sich dabei an Louises Arm wie ein verrückt gewordenes Tier.“

Wie gefällt es?
Es ist ein Sog, in den mich dieses Buch gezogen hat, ein Sog in die Katastrophe, von der ich ja wusste, dass sie passieren wird, es aber eigentlich nicht glauben wollte. Louise ist so perfekt, zuverlässig, talentiert in vielen Dingen. Aber die  Demütigungen in ihrem Leben kann sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr überspielen. „Dann schlaf auch du“ von Leila Slimani ist nicht nur ein packender Psycho-Thriller, sondern ein Gesellschaftsroman über die vor allem in Frankreich typischen Familienverhältnisse von arbeitenden Eltern und den oft mehr oder weniger unsichtbaren Nannys.

Leila Slimani: „Dann schlaf auch du“, Luchterhand-Verlag,  20 EUR, ISBN: 9783630875545

hr-iNFO Büchercheck vom 28.09.2017


Tristan Garcia: „Faber. Der Zerstörer“
Tristan Garcia hat sich mit einer Philosophie des intensiven Lebens zu einer Stimme Frankreichs gemacht. Doch Garcia schreibt wie andere Lebensphilosophen, Camus oder Sartre etwa, auch Romane. Und tatsächlich kann man seinen Roman „Faber. Der Zerstörer“ aus der Perspektive seiner Philosophie lesen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Basile, Madeleine und Faber lernen sich in den 80ern kennen, als sie in die Grundschule gehen. Basile und Madeleine stammen aus dem Kleinbürgertum einer Provinzstadt. Fabers familiäre Wurzeln sind in Nordafrika. Er wächst bei Pflegeeltern auf, ebenfalls kleine Leute, die alles für ihn geben. Faber wird zu einer Art großer Bruder und Schutzengel für die beiden anderen. Angstfrei, stark, gewitzt und extrem schnell im Denken, wird er zur Respektsperson unter den Schülern und schließlich zum Idol der Schule. Jegliche Kühnheit der Jugend scheint in ihm personifiziert. Fast schon dämonisch wirkt er. Aber das Trio entzweit sich. Faber taucht ab. Madeleine und Basile bleiben verletzt und ratlos zurück. Sie entwickeln sich zu den Durchschnittstypen, die ihre Eltern schon sind. Basile formuliert es so:

„Ich begriff, dass ich ein Provinzler war und es wahrscheinlich bleiben würde. Was bedeutete, dass ich nur halb geboren und teilweise schon gestorben war. Ich fühlte mich halbseitig taub, wie gelähmt. Dieses mit Nicht-Leben vermischte Leben war meine Bestimmung. Und eigentlich war mir das nicht unangenehm. Dann blickte ich zu Faber hinüber. Ich wusste, dass er sich niemals mit derart platten, enttäuschenden und friedlichen Wahrheiten abfinden würde.“

Nach vielen Jahren wollen sich Madeleine und Basile an Faber rächen. Sie holen ihn zurück. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst, ein kaputter und verwahrloster Typ. Aber er hat immer noch Macht über sie. Vergangenheit und Gegenwart, die Zukunftshoffnungen und  Träume der Jugendlichen und die desillusionierende Wirklichkeit der Erwachsenen prallen aufeinander. Eine mörderische Gemengelage.

Wie ist es geschrieben?
Man kann diesen Roman wie einen Thriller lesen. Viele Rätsel tauchen auf, Kapitel für Kapitel neue Spuren, richtige und falsche Fährten. Spannend und raffiniert. Erzählt wird aus der Perspektive der drei Figuren und auf zwei Zeitebenen, der Gegenwart und der Vergangenheit. Auch die verschiedenen Blicke auf dieselbe Geschichte erhöhen die Spannung. Zum Schluss taucht dann überraschend noch ein vierter Erzähler auf, der die Geschichte auf den Kopf stellt.

Wie gefällt es?
Ich finde, dieses Buch ist ein Knaller. Von Anfang bis Ende hat mich die Geschichte gefesselt. Sie ist spannend und tief schürfend zugleich. Sie hat mich förmlich hinein gesogen in den provinziellen Schauplatz mit seiner erstarrten Gesellschaft, in das Denken und Empfinden der Protagonisten, in die Aufbruchstimmung und den Idealismus ihrer Jugend, aber auch in ihre Verirrung, Überreizung und schließlich Erschlaffung. Einfach furios.

Tristan Garcia: „Faber. Der Zerstörer“, Wagenbach Verlag, 24 EUR, ISBN: 9783803132888


hr-iNFO Büchercheck vom 21.09.2017


Anna-Elisabeth Mayer: „Am Himmel“
"Am Himmel" heißt der neue Roman von Anna-Elisabeth Mayer. Für ihre ersten beiden wurde die Schriftstellerin aus Österreich mehrfach ausgezeichnet. Und auch dieser ist wieder preisverdächtig.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Wer – des Titels wegen – einen romantischen Roman erwartet, könnte kurz enttäuscht sein. Denn „Am Himmel“ ist nichts weniger als romantisch! Die Geschichte beginnt mit einem Mord: der Jäger und Förster Eduard Hüttler erschießt aus nächster Nähe seinen Herrn, den Baron von Sothen. Das ist eine sehr dramatische Ausgangssituation und der Dreh- und Angelpunkt der Romanhandlung. Von hier aus wird in zwei Richtungen erzählt: In Sothens betrügerische Vergangenheit und in die Zukunft: Wie Hüttler sich der Polizei stellt, ins Gefängnis kommt und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird. Noch spannender allerdings ist die Vorgeschichte: Von Sothen ist ein eiskalter Gutsherr, der seine Angestellten und vor allem den armen Hüttler permanent schikaniert. Bis der aus lauter Verzweiflung und Ausweglosigkeit seinen Herrn erschießt.

Wie ist es geschrieben?
Sehr beeindruckend und mitreißend! In den erzählenden Passagen knapp, sachlich, oft reduziert auf Sätze, die gar nicht ganz vollständig sind, die eilig weiterziehen und einen mitreißen. Alles Überflüssige wird weggelassen, und das, was stehen bleibt, ist oft ungewöhnlich konstruiert. Manche Sätze wirken wie Bühnenanweisungen, andere wie ein Peitschenknall. In manchen Nebensätzen werden ganze Schicksale angedeutet. Da bleibt man an vielen Sätzen, Formulierungen oder Andeutungen hängen. Liest sie noch mal und ist verwundert über so viel Kreativität und Wucht.

„Sothen stolperte in die Kanzlei zurück. Eduard folgte mit dem Gewehr. Sothen stürzte durch das Vorzimmer, sein Herz schlug wie wild. „Ins Büro, ins Büro“, er warf die Tür zu, es schepperte. Durch die Milchglasscheibe Sothens Umriss. Eduard drückte ab. Dann ging er in den Hof, lehnte sich an die Mauer beim Türeingang, sein Herz wie wild.“

Wie gefällt es?
Ich bin total begeistert! Ein ernster Roman, erzählt von einer ganz eigenen, eindringlichen Stimme. Anna Elisabeth Mayer erzählt distanziert und präzise, und ohne jeden Kommentar. In den vielen Dialogen entlarven sich die Personen auf ganz subtile Art und Weise selbst. Aber – und das ist mir jetzt sehr wichtig – das Buch verfällt keinen Augenblick in Trübsinnigkeit. Im Gegenteil: Ab und zu, sehr dosiert, blitzt ein absurder Witz auf. Da entsteht durch Doppeldeutigkeiten ein skurriler Humor. „Am Himmel“ ist auch ein spöttisches Buch, schon der ironische Titel deutet das ja an. Denn das Anwesen mit dem Namen „Am Himmel“ ist für fast alle Beteiligten die reine Hölle. Ein großartiger Roman!


Anna-Elisabeth Mayer: „Am Himmel“, Schöffling Verlag, 20 EUR, ISBN: ISBN: 9783895611377

hr-iNFO Büchercheck vom 14.09.2017


Valeria Parrella: „Liebe wird überschätzt“
Menschen an einem zentralen Wendepunkt ihres Lebens. Das ist der Kern guter Erzählungen. Die italienische Schriftstellerin Valeria Parrella schreibt solche Geschichten. Jetzt ist von ihr der Band „Liebe wird überschätzt“ erschienen.
Schon der Titel zeigt: die Autorin aus Neapel bürstet gegen den Strich.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat die Geschichten gelesen.

Wird die Liebe nun überschätzt oder nicht? Für Susanna, die in einem Jahr Abitur machen wird und nun auf einer Urlaubsreise mit ihren Eltern ist, ist die Sache klar. Ja, die Liebe wird überschätzt. Sie hat aber auch erleben müssen, wie ihr Vater ständig fremd ging und die Mutter über Jahre hinweg eine heimliche Beziehung unterhielt. Susanna hat es gemerkt und die Verlogenheit ihrer Eltern registriert. Und als der Freund der Mutter während der Urlaubsreise stirbt und die Mutter aus dem Gleichgewicht gerät, rechnet Susanna mit ihren Eltern ab.
Ich bin anders. Als ich im Zug aus dem Fenster geschaut habe, habe ich nur an das gedacht, was ich sah. Ich habe die Städte gesehen, dann nichts mehr. Über lange Strecken nur die Nacht, dann wieder einen hellen Schein über den Feldern, der näher kam, und ich wusste, dass dort hinten wieder eine Stadt liegt, mit Männern und Frauen wie ihr, die sich im Schlaf an der Hand halten und dabei an jemand anders denken. Und die Welt, die ich gesehen habe, wird meine sein.“

Worum geht es?
Susanna ist eine typische Figur von Parrellas Erzählungen. Sie schreibt Geschichten über Menschen, die etwas erlebt haben. Glück oder Leid, Hoffnung oder Desillusionierung. Menschen, die ihr Leben annehmen, mit allen Seiten, bis zum Tod, aber immer bewusst und aktiv.  Zum Beispiel die Äbtissin, die ihr Kloster verlässt, um den Säugling einer verschwundenen Zwangsprostituierten als ihr eigenes Kind auszugeben und groß zu ziehen. Oder das krebskranke Mädchen, das dem Tod entgegen blickt und trotzdem dieses Leben als ihres annimmt. Es zeigt einen Lebensmut, eine Lebenskraft, an dem letztlich sogar die Flammen des Krematoriums scheitern. Das ist eines von vielen großartigen Bildern in diesem Erzählband, der die verschiedenen und widersprüchlichen Facetten der Liebe unter die Lupe nimmt.

Wie ist es geschrieben?
Acht Geschichten erzählt Valeria Parrella in diesem Buch. Einige sind der Alltäglichkeit abgeguckt, andere sind sehr speziell. Es sind menschliche, realistische Geschichten.  Auch wenn es mal ein symbolisch zugespitztes Bild gibt, wie das vom unverbrennbaren Körper des toten Mädchens. Das verträgt die Geschichte und dieses Bild trägt sogar diese Geschichte. Überhaupt erzählt Parrella in Bildern. Sie beobachtet ihre Protagonisten in ihren Milieus oder sie lässt ihre Figuren selbst beobachten, was ihre Wirklichkeit ausmacht. Das macht einen großen Reiz dieser Erzählungen aus.

Wie gefällt es?
Valeria Parrella präsentiert Menschen, die sich neu erfinden,  Ereignisse in ihrem Leben aufgreifen und sich weiter entwickeln. Sie beschreibt das in einer sensibel registrierenden und scharf beobachtenden Sprache. Ich finde, das ist sehr gekonnt, interessant und anregend.

Valeria Parrella: „Liebe wird überschätzt“, Hanser Verlag, 18 EUR, ISBN: 978-3446256507

hr-iNFO Büchercheck vom 07.09.2017

Christian von Ditfurth: „Giftflut“
Christian von Ditfurth schildert in „Giftflut“ einen Terroranschlag unbeschreiblichen Ausmaßes: innerhalb weniger Tage werden große Brücken in Berlin, Paris und London in die Luft gesprengt. Hunderte von Toten. Und es hört nicht auf: Anschlag folgt auf Anschlag. Es gibt keinerlei Hinweise auf die Täter.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
In Berlin ist Hauptkommissar Eugen de Bodt für die Ermittlungen zuständig – eigensinnig und vor allem nicht bereit, sich in die bürokratischen Hierarchien einzufügen. Und damit immer kurz vor dem Rausschmiss,  hätte er in der Vergangenheit nicht spektakuläre Erfolge gefeiert. Doch mit diesen Terroranschlägen wirkt auch de Bodt überfordert: keine Spuren, keine Indizien, keine Hinweise. Ausschließlich das Thema Wasser verbindet alle Verbrechen, wurden in den drei europäischen Hauptstädten doch auch die Chefs der Wasserwerke in ihren Badewannen ertränkt. Was ist das Ziel dieser Attentäter? Werden die Regierungen erpresst? Wollen Staaten, die durch den Klimawandel von Überschwemmung bedroht sind, den westlichen Staaten den Krieg erklären? Derweil geraten die Regierungen in Europa in die Krise, die Börsen stürzen ab, die Rechtsradikalen gewinnen an Zustimmung…

„„Wasser“, sagte de Bodt. „Irgendwas mit Wasser. Sie haben ja auch das Wasser abgestellt. Kurz nur. Wie gesagt, die übliche Kundschaft hätte gleich das Wasserwerk in die Luft gejagt. Oder Plutonium ins Trinkwasser gekippt.“
„Ganz Europa hat Terroristendaueralarm. Und doch sprengt da irgendwer einfach die Brücken weg“, sagte Salinger.
„Wir kommen so nicht weiter“, sagte de Boldt leise.“

Wie ist es geschrieben?
263 Kapitel plus Epilog plus Prolog – „Giftflut“ von Christian von Ditfurth ist ein atemloser Krimi, kurz und prägnant, geschrieben aus verschiedenen Perspektiven: neben dem Berliner Team um Kommissar de Bodt sind da noch die Killer, die die Verbrechen ausführen, aber ihre Auftraggeber nicht kennen und auch nicht wissen, was hinter dem Ganzen steckt. Und ein Hamburger Tourist fern der Heimat, der eigentlich nur ins Internet will und sich zufällig in das Netzwerk der Killer hackt. Er wird entdeckt, soll getötet werden, aber erwischt wird dessen Freundin. Ab dann sinnt er nur noch auf Rache und mischt mit in dieser ganz großen Verschwörung, naiv, aber skrupellos.

Wie gefällt es?
Hunderte Tote, Terror in Europa, ein Kontinent im Ausnahmezustand – Christian von Ditfurth hat mit „Giftflut“ einen klug konstruierten Thriller geschrieben. Die realistische Perspektive hat mir besonders gefallen, die Kanzlerin mit dem direkten Draht zu Kommissar de Bodt, die Engländer, die sich wegen des Brexits aus einer gemeinsamen Ermittlung heraushalten. BKA und Verfassungsschutz, die nur darauf bedacht sind, ja keinen Fehler zu begehen. Nachzufühlen ist die Verzweiflung des Berliner Kripo-Teams, mit jedem Ermittlungserfolg vor einer neuen großen Frage zu stehen. Und für alle Hessen unter uns: in Frankfurt wird der Fall geklärt.

Christian von Ditfurth: „Giftflut“, Verlag carl’s books, 15 EUR, ISBN: 978-3570585658

hr-iNFO Büchercheck vom 31.08.2017    


Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“
Mit Ihrem Debüt-Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ landete Arundhati Roy 1997 einen weltweiten Bestseller. Danach engagierte sich die Schriftstellerin vor allem politisch und ökologisch. Jetzt, 20 Jahre später ist, lang erwartet, ihr zweiter Roman erschienen. „Das Ministerium des äußerten Glücks“ heißt er.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Arundhati Roy erzählt die Geschichte des modernen Indiens als Geschichte einer vollkommen zerrissenen Gesellschaft, und er erzählt diese Geschichte von den Rändern dieser Gesellschaft her. Da ist einmal die transsexuelle Anjum, die als Junge geboren, sich mit 16 geschlechtsumwandeln lässt , zu Dehlis berühmtester Hijra wird, bevor sie mit 46 auf einen Friedhof zieht und dort eine immer größere und immer lebendigere Kommune um sich versammelt. Und dann ist da Tilo, eine Architektin, die durch die Liebe zu einem muslimischen Widerstandskämpfer in den immer wieder aufbrechenden Kaschmirkonflikt hineingezogen wird. Beide Frauen sind Grenzgängerinnen, die sich schmerzensreich, aber letztendlich doch souverän über all das hinwegsetzen, was Indien heute entzweit.

Wie ist es geschrieben?
Arundhati Roy erzählt von grauenvollen Ereignissen, von Folter, von Pogromen, von Umweltkatastrophen, aber sie erzählt das in einem merkwürdig abgeklärten, teilweise sarkastischen Stil:

„Der Tod war überall, der Tod war alles. Karriere. Begehren. Traum. Poesie. Liebe. Jugend. Sterben wurde zu einer neuen Lebensweise. Friedhöfe wurden in Parks und auf Wiesen angelegt, neben Flüssen und Bächen, auf Feldern und in bewaldeten Tälern. Grabsteine wuchsen aus der Erde, wie kleinen Kindern Zähne wachsen.“
Hier spricht die politische Aktivistin, hier spricht aber auch die Beobachterin der indischen Geschichte, die ein Stück weit resigniert hat, angesichts der endlosen Konflikte und der absurden Unfähigkeit einer korrupten politischen Klasse. Der Politik traut Arundhati Roy offenbar nichts zu; auf große Lösungen hofft sie nicht; Hoffnung gibt es nur auf der Ebene der einzelnen Menschen, die sich irgendwie durchschlagen müssen und von deren verzweifeltem Mut und bitterem Humor sie erzählt. Mitunter zerfasert dabei die Handlung, zersplittert das Geschehen, wird redundant, aber das ist offenbar auch ein bewusst gewähltes Prinzip dieses Romans.

Wie gefällt es?
Es ist nicht alles gelungen in diesem mehr als 500-seitigen Roman. Der Handlungsverlauf ist nicht immer zwingend; mitunter bewegt er sich fast gar nicht von der Stelle. Figuren, die man liebgewonnen hat, verschwinden und tauchen erst hunderte Seiten später wieder auf, ohne dass wirklich klar ist, warum. Dieser Roman ist teilweise genauso zerrrissen, wie die Gesellschaft, die er beschreibt – und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen hat er mich gepackt. Arundhati Roy macht sich, und macht uns keine Illusionen. Sie erzählt die Geschichte Indiens mit all den Grausamkeiten und Absurditäten, die dazu gehören, aber auch mit einer gehörigen Portion Sympathie für die Menschen, die darunter zu leiden haben. Es ist diese Spannung, die den Roman äußerst lesenswert macht.

Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“, S. Fischer, 24 EUR, ISBN: ISBN: 978-3-10-002534-0

hr-iNFO Büchercheck vom 24.08.2017    


Marc-Antoine Mathieu: „Otto“
Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse ist Frankreich. In der Ausstellung im französischen Pavillon wird auch der Comic eine große Rolle spielen. Denn der wird in Frankreich, anders als bei uns, schon längst als eigenständige Kunstform angesehen. Die neue Graphic Novel „Otto“  des französischen Superstars Marc-Antoine Mathieu ist spannend wie ein Krimi. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? - Diesen allerletzten Fragen geht die Graphic Novel auf den Grund.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat die Graphic Novel gelesen.

Worum geht es?
Es geht um „Otto“, einen Performance-Künstler, der vor allem mit Spiegeln arbeitet, die er gerne am Ende seiner Performances zerschmettert. Otto ist ein Superstar und auf der Höhe seiner Karriere auch in einer Sinnkrise angelangt. Und genau da erhält er die Nachricht, dass seine Eltern bei einem Auto-Unfall ums Leben gekommen sind. Sie haben ihm eine geheimnisvolle große Truhe hinterlassen. Darin stößt Otto auf die Dokumentation seiner ersten sieben Lebensjahre – in Notizen, Fotos und Tonbandaufzeichnungen, minutiös festgehalten. Er zieht sich in sein Atelier zurück und begibt sich in die Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Material – und damit auch auf eine ungewisse Reise zu sich selbst.

Wie ist es geschrieben?
Die Graphic Novel „Otto“ ist von frostiger Schönheit. Ein schlankes weißes Buch im Querformat. Auch die Zeichnungen sind ganz in schwarz-weiß gehalten. Es gibt keine Sprechblasen, der Text steht immer unter den Bildern – und ist ein hochgradig reflektierender, philosophischer Kommentar zur Situation und den Gedanken von Otto. Die Bilder sind, wie häufig bei Marc-Antoine Mathieu, sehr symbolisch. Eine riesige Menschenmenge Schaulustiger nimmt da z.B. von der Luft aus betrachtet selbst die Umrisse eines Menschen an. Oder die fein verästelten Adern eines Blatts erweisen sich beim Rein-Zoomen in einem anderen Bild als Furchen, die viele kleine „Ottos“  durch den Hüfthohen Schnee ziehen. Ein Sinnbild für die verzweigten Wege, die Otto in seinem Leben gegangen ist – oder hätte gehen können.

„Er fühlte sich 'vorgezeichnet'. (…) Er kannte nun die Kettenreaktion von Ursache und Wirkung, die Ereignissen und Handlungsweisen in seinem Leben voranging, und er konnte nicht sagen, welche darunter folgenreicher waren als andere. (…) So kam es, dass Otto nicht mehr die Welt dachte, die Welt dachte in ihm.“

Wie gefällt es?
Vorsicht! „Otto“ ist anspruchsvoll, hoch-philosophisch – und macht Spaß!
Denn die Geschichte hat eine latente Spannung, so etwas Schwebendes, gefährlich-Ungewisses, dass man gar nicht anders kann, als sie in einem Rutsch bis zu Ende zu lesen. - Und während dessen kommen viele Fragen auf: Wie haben mich meine eigenen Erfahrungen in der Kindheit womöglich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin? - Und auch wenn ich nicht so weit gehen möchte, den freien Willen für eine Illusion zu halten: Wie frei bin ich wirklich in meinen Entscheidungen? Marc-Antoine Mathieu stellt nicht nur die richtigen Fragen, er hat dafür auch starke, poetische und gänzlich stimmige Bilder entworfen. Bis zum allerletzten, das „Otto“ am Ende seiner Reise zu sich selbst tatsächlich finden wird.

Marc-Antoine Mathieu: „Otto“, Reprodukt Verlag, 20 EUR, ISBN: 978-3956401312

hr-iNFO Büchercheck vom 17.08.2017    


Olivier Adam: „Die Summe aller Möglichkeiten“
Die Cote d´Azur. Eine mediterrane Traumlandschaft. Warm, blaues Meer, ockerfarbene Buchten, malerische Dörfer und Städte. Land der Künstler, des Jetsets, der Touristen. Ja. Aber es gibt dort auch andere Menschen. Die nicht in Villen mit Pool leben, sondern in Miet- oder Sozialwohnungen. Menschen eben, die sich Tag für Tag durchwurschteln müssen, die im Schatten leben. Für die der Sieg ihrer Fußballmannschaft der größte Glanz ihres Lebens ist. Um sie geht es im neuen Roman von Olivier Adam.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Roman beginnt furios. Mit einem Unwetter und einer Gewalttat. Wellen türmen sich auf, überspülen den Strand, lassen die Scheiben des Strandlokals bersten, reißen alles mit sich, was nicht fest verankert ist. Menschen sterben in den Fluten, andere verschwinden. Und ein Fußballspieler des Regionalclubs, der am Strand jobbt und die Hütten auf einem Campingplatz anstreicht, wird überfallen und mit einem Baseballschläger krankenhausreif geprügelt. Steckt der örtliche Mafioso dahinter oder wütende Fans? Kapitel für Kapitel lässt Adam seine Figuren auftreten und ihre Geschichte erzählen. Menschen, die stecken geblieben sind, deren Leben schief gelaufen ist, weil es ihnen an Einsatz fehlte oder weil sie an bestimmten Weichen einfach die falschen Entscheidungen getroffen, auf die falschen Leute gesetzt. Antoine, der Fußballspieler und Tagelöhner ist einer von ihnen und bringt dieses Lebensgefühl auf den Punkt.
„Das ist das Problem mit dem Leben, dachte Antoine. Dasjenige, das man hat, ist immer zu eng, und das, das man gern hätte, ist zu groß, um es sich auch nur vorstellen zu können. Die Summe aller Möglichkeiten ist das Unendliche, das gegen null tendiert. Letztlich geht es vorüber. Es geht immer vorüber.“

Wie ist es geschrieben?
Es ist eine harte Geschichte, und Adam erzählt sie ungeschminkt. Nah an seinen über 20 Figuren, jede in ihrer Sprache. Mal ruppig, mal weinerlich, mal desillusioniert. Und doch hat der Autor Verständnis und Sympathie für seine Leute. Sie erfahren auch Zuwendung, Unterstützung, dürfen auch hoffen. Es gibt sogar Gegenmodelle halbwegs geglückten Lebens, wie eine ältere Schriftstellerin, die zwar einsam ist aber mit sich im Reinen. Um ihren Lebensentwurf zu beschreiben, findet Adam zarte und sensible Bilder, hier leuchtet der Roman.

„Spüren, wie die Zeit vergeht. Den Duft der Luft atmen. Empfänglich sein für die Veränderungen des Lichts. Sich von der Unendlichkeit des Meeres gefangen nehmen lassen. Seiner vollkommenen Unbewegtheit. Seinen Reflexen. Seinen Farben. Seinen Bewegungen. Sich an den Fels lehnen. Die Rinde der Bäume berühren. Die Flechte. Die Augenblicke abpassen, in denen das Licht jedes Blatt zu umhüllen, sie in einen durchsichtigen Schrein zu betten, sie zu durchdringen scheint.“

Wie gefällt es?
Eine spannende Geschichte und eine analytische Geschichte, die dabei hilft, das Frankreich unserer Zeit mit seinen gesellschaftlichen Spannungen und politischen Besonderheiten besser zu verstehen. Vor allem aber ein Buch über Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Adam hat sie zum Sprechen gebracht. Ich finde, das ist viel.

Olivier Adam: „Die Summe aller Möglichkeiten“, Klett-Cotta Verlag, 25,- EUR, ISBN: 978-3608980332

hr-iNFO Büchercheck vom 10.08.2017


Monika Held: „Sommerkind“
Monika Held war jahrelang Reporterin bei der „Brigitte“ und hat die ganze Welt bereist. In ihren Romanen geht sie eigenwilligen Menschen und schwierigen Schicksalen nach. Ihre Fähigkeit, sich in komplizierte Charaktere einzufühlen und diese sensibel zu beschreiben, ist beeindruckend. Auch in „Sommerkind“ beweist sie das.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Im Mittelpunkt steht Malu, ein Sommerkind. So werden Kinder genannt, die im Sommer fast ertrinken und durch den erlittenen Sauerstoffmangel im Koma liegen. Malu ist neun Jahre alt, als sie im Schwimmbad fast ertrinkt, während ihr 16-jähriger Bruder Kolja mit einem Mädchen, das er sehr mag, auf einer Bank sitzt. Malu kommt in eine Spezialklinik, überlebt, und wird ihr ganzes Leben im Koma verbringen. Die Ehe der Eltern zerbricht an dem schrecklichen Ereignis, die Mutter wird depressiv. Und Kolja wird sich sein Leben lang verantwortlich fühlen für den Unfall. Hier gibt es neben Kolja noch eine zweite Protagonistin, Ragna nämlich, die Ich-Erzählerin, die damals neben dem Jungen auf der Bank saß und Malu im letzten Augenblick das Leben gerettet hat. Ragna kann sich nicht mehr an den Unfall erinnern. Kolja soll ihr helfen, das Vergessene wieder zu finden.

Wie ist es geschrieben?
Monika Held verbindet sehr unterschiedliche Themen miteinander: Eine Frau, die auf der Suche ist nach ihrer Erinnerung. Dazu kommt Koljas Lebensgeschichte und sein Trauma, schuldig zu sein am Unfall seiner Schwester. Und schließlich Koljas Erlebnisse in einer Klinik für Komakinder. Überall spielt auch die Erinnerung eine Rolle. Zusammengebunden werden diese Motive durch eine ruhige, melodische Sprache. Monika Held findet immer wieder einen leisen, eindringlichen Ton. Für  die dramatischen Ereignissen und heftigen Emotionen, aber auch für die eher abstrakten Beschreibungen von Gedächtnis und Erinnerung. Sie verwandelt das Leben ihrer Protagonisten in erzählte Bilder, die sich in der Phantasie des Lesers zurückverwandeln in Leben.

„Ich habe mit zehn Jahren einen Fotoapparat bekommen. Nach den ersten Bildern war ich süchtig nach Motiven. Bei allem, was mir vor die Linse kam, dachte ich: meins. Der Baum: gehört mir. Die Taube: gehört mir. Die Hunde, Katzen, alle Menschen, die ich mit meiner ersten Kamera festhielt, jeder Fisch an der Angel wurde mein Eigentum. Ich war ein Dieb, ich stahl mit den Augen.

Wie gefällt es?
„Sommerkind“ es ist trotz seiner schwierigen Themen ein wohltuendes Buch. Ein Roman, der feinsinnig und klug von schweren Schicksalen erzählt, das aber auf eine so sensible Weise, das wir sozusagen getröstet werden. Abgesehen davon, dass er sehr viele schöne Szenen enthält, sinnliche Schilderungen von Natur, Meer und Landschaft oder sehr innige Szenen aus der Kinderklinik. Man spürt, wie viel Respekt Monika Held vor ihren Figuren hat und wie viel Zuneigung für sie. Ein Roman, der Mut macht und Hoffnung, und der uns staunen lässt über die Leistungen unseres Gehirns und unseres Gedächtnisses. Denn nur die Erinnerung macht es uns möglich, wir selbst zu sein.

Monika Held: „Sommerkind“, Eichborn Verlag, 20 EUR, ISBN: 978-3847906261

hr-iNFO Büchercheck vom 03.08.2017


Adrian McKinty: „Rain Dogs“
„Rain Dogs“ von Adrian McKinty führt uns ins Nordirland Ende der 80er Jahre: im Innenhof einer alten Burg wird die Leiche einer jungen Journalistin der Financial Times gefunden, alles deutet auf Selbstmord hin. Doch Inspector Sean Duffy hat da so seine Zweifel…

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Nordirland 1987: der katholische Inspector Sean Duffy schaut jedes Mal unter sein Auto, bevor er losfährt, schließlich könnte eine Bombe darunterliegen. Es ist die Zeit der Unruhen, der Troubles, wie er es nennt. Eines Morgens wird er zu einem neuen Fall gerufen: einem Mitglied einer finnischen Delegation, deren Firma in der Nähe möglicherweise eine Mobilfunk-Fabrik errichten möchte, ist die Brieftasche gestohlen worden. Ein lächerlicher Fall, der schnell geklärt wird. Doch am nächsten Morgen ist die Journalistin Lily tot – sie hatte die Delegation begleitet. Sie liegt im Innenhof einer Burg, die über Nacht hermetisch abgeriegelt ist. Auf den Bändern der Überwachungskameras ist nichts zu sehen, also hat sie sich möglicherweise am Abend einschließen lassen und dann Selbstmord begangen?  Ein Fall einer locked room mystery, also einem verschlossenen Ort, niemand darin außer dem Opfer, niemand konnte rein oder raus? Inspector Duffy glaubt nicht an die Selbstmord-Theorie, allerdings scheint alles andere auch unmöglich…

„Wir brauchen ein Motiv. Warum wollte sie jemand umbringen? Ärger mit einem Freund, Probleme bei der Arbeit. Crabbie, ich möchte, dass du die Financial Times anrufst und mit Lilys Chef sprichst, versuch auch, irgendwelche von ihren Freunden an die Strippe zu kriegen.“
„Kein Problem.“
„Lawson, Sie und ich versuchen uns mal daran, Lilys Tod zu rekonstruieren. Wenn wir sie unter den gegebenen Umständen umbringen wollten, wie würden wir das anstellen? Als Allererstes wollen wir mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen, ob das Rätsel der verschlossen Burg tatsächlich eines ist.“

Wie ist es geschrieben?
Adrian McKinty entwickelt die Geschichte behutsam: viel wird erzählt von den Zuständen in Nordirland, von desillusionierten Polizisten, von Terror und wirtschaftlichem Elend. Und darin Inspector Duffy, intelligent, gebildet, gerade heraus und vor allem hartnäckig. Der jedes Fitzelchen eines Hinweises auf einen Mord aufgreift und eisern verfolgt. Ein wunderbar lakonisch erzählter, klassischer Kriminalroman.

Wie gefällt es?
In der Ruhe liegt die Kraft – könnte man sagen, wenn man „Rain Dogs“ von Adrian McKinty liest: Seite um Seite baut sich die Spannung auf, die Gewissheit, dass es Mord sein muss, aber eigentlich nicht sein kann. Mich hat aber auch die Schilderung des Nordirlands Ende der 80er Jahre fasziniert, das gelingt McKinty meisterlich. Und die Auflösung des Mordes in der abgeriegelten Burg ist grandios, das hat mich schwer beeindruckt.

Adrian McKinty: „Rain Dogs“, Suhrkamp Verlag, 14,95 EUR, ISBN: 978-3518467473

hr-iNFO Büchercheck vom 27.07.2017

Bodo Kirchhoff: „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“

Bodo Kirchhoff, der Frankfurter Schriftsteller, der im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis bekam, hat sich nach diesem Erfolg nicht etwa auf eine Kreuzfahrt begeben, sondern ein Buch über das Thema geschrieben. Es heißt: „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt.“ Und tatsächlich besteht das Buch aus der E-Mail eines Schriftstellers an eine Reederei, die ihn für eine Kreuzfahrt durch die Karibik unter Vertrag nehmen will.

Mehr darüber von hr-iNFO-Bücherchecker Frank Statzner.

Das Angebot klingt verlockend. Rundfahrt durch die Karibik mit Start und Ziel in Havanna. Freie Kost und Logis, Außenkabine mit Balkon. Mit Begleitung. Aber die Reederei stellt Bedingungen. Natürlich soll der Schriftsteller abends aus seinem Werk vorlesen. Eine Zusammenfassung der betreffenden Inhalte möchte der Veranstalter vorher sehen und prüfen können. Denn: die Gäste sollen sich ja wohl fühlen können. Der Autor soll ihnen freundlich zugeneigt sein. Liebschaften mit den Passagieren sind allerdings untersagt. Der Autor setzt sich an den PC und schreibt eine 120 Seiten lange E-Mail. Er wägt ab, formuliert seine Bedenken, die Reize des Angebots kommen aber auch immer wieder hervor. Nicht zuletzt sein Interesse an seiner Ansprechpartnerin beim Veranstalter. Kirchhoff lässt Kulturen aufeinander klatschen. Vom Kreuzfahrtpublikum hält sein Protagonist nichts.

"Nehmen wir an, vier bis fünf von einem langen Tag auf dem Sonnendreck frisch Gebräunte säßen in leichter Bekleidung, um möglichst viel von ihrer Tagesleistung zu zeigen, in der ersten Reihe und müssten sich anhören, wie mein Romanheld zu der am Flughafen aufgegabelten Frau, als sie sich später in einem Hotelzimmer auszieht, sagt, dass mit jeder Hülle auch ein Stück Schönheit fällt, alles Schöne still zu Bruch geht. Müsste dann das weibliche Publikum – Männer besuchen nur unter dem Druck ihrer Frauen eine Lesung - nicht denken, dass ihr ganzer Karibiktag vergebens war und das Sonnendeck als einen Ort der Zerstörung sehen?

Und wie muss es erst sein, wenn Tätowierte ihn in den Whirl-Pool einladen? Er soll ja freundlich und zugewandt sein? Er, der doch eher der Freund eines gepflegten Whiskys am Kaminfeuer ist und die Kreuzfahrtschiffe am liebsten zur Sammelstation und Unterkunft von Flüchtlingen umfunktionieren würde. Das wirkt ein wenig klischeehaft, aber indem er sich an seinem Bild der Gäste und an den Auflagen der  Reederei abarbeitet, hält er sich selbst einen Spiegel vor. Elitär bis überheblich, süffisant, boshaft, aber auch narzistisch und larmoyant. Dadurch entsteht Spannung, auch für die Story. Wie wird er sich am Ende entscheiden?

Die Form der E-Mail erfordert einen Monolog. Da der Protagonist ein Schreiber alter Schule ist, monologisiert er in teils gedrechselten Sätzen und in ausgefeilter Sprache.  Das steht in einem reizvollen Spannungsverhältnis zum boshaften Spott über die Kreuzfahrt-Kultur oder auch zur manchmal durchscheinenden Ironie, mit der sich dieser Schriftsteller selbst inszeniert. Kirchhoff präsentiert sich hier von einer anderen Seite als in den letzten drei Büchern. Hier zieht er vom Leder, mit allem, was ihm sein Humorarsenal zur Verfügung stellt: Ironie, Satire, Sarkasmus, Spott. Sehr unterhaltsam, wenn man nicht gerade Kreuzfahrt-Fan ist.

Bodo Kirchhoff: „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, Frankfurter Verlagsanstalt, 18 EUR, ISBN: 9783627002411

hr-iNFO Büchercheck vom 20.07.2017

Monika Geier: „Alles so hell da vorn“
Diesmal führt uns die Kriminalhandlung in die Pfalz, nach Ludwigshafen. Hier arbeitet Kriminalkommissarin Bettina Boll, immer in Hektik, immer im Stress, denn neben der Arbeit erzieht sie noch die zwei Kinder ihrer verstorbenen Schwester. Doch, der Reihe nach: die Geschichte beginnt in Frankfurt am Main.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Die sehr junge Prostituierte Manga empfängt in einem Frankfurter Vorort-Bordell einen Polizisten als Kunden, so weit nicht ungewöhnlich, ist er doch Stammgast und erscheint immer in voller Uniform. Doch der Besuch endet anders als sonst: Manga schnappt sich die Waffe des Polizisten, erschießt ihn, tötet auch noch einen Zuhälter und verschwindet mit dessen Auto Richtung Pfalz. Zielstrebig sucht sie im dem Dorf Höhbrücken den Schuldirektor auf und erschießt auch diesen. Dann lässt sie sich festnehmen. Und in dem Dorf fragen sich alle: handelt es sich bei der Schützin um Meggie, das Mädchen, das vor zehn Jahren spurlos aus dem Ort verschwand und jetzt Rache nimmt? Kriminalkommissarin Bettina Boll wird in die Soko berufen. Erschüttert von der Verstrickung ihres Kollegen in einen möglichen Kinderhandel-Fall, hin- und hergerissen zwischen der Arbeit und den Kindern, die sie erzieht, und abgelenkt von einem Hausverkauf, schafft sie es, die richtigen Zeugen zu befragen, die richtigen Fragen zu stellen, sich loyale Kollegen zu Hilfe zu rufen. Und am Ende den Fall aufzuklären, auch wenn nicht alle Schuldigen gefasst werden.

Wie ist es geschrieben?
Monika Geier hat einen besonderen Ton, einen eigenen Sound, böse, lakonisch, voll von schwarzem Humor, manchmal ausschweifend, an den richtigen Stellen verknappend – „Alles so hell da vorn“ ist ein Krimi auf höchstem Niveau. Er spielt in der Provinz, ist aber das Gegenteil von provinziell. Monika Geier beherrscht die Zeichnung von zum Teil skurrilen Personen, von Atmosphäre, von Gefühl und Aktion aufs allerbeste.

"Freunscht sah sie an und sagte: „Frau Boll, ich glaube, Sie haben da tatsächlich ein Detail ermittelt, das der Soko Meggie damals entgangen ist.“
Jetzt erst registrierte Lingen Bettinas Anwesenheit wirklich. Sein Blick fuhr einmal an ihr hinunter und dann voll triefender Verachtung wieder hoch. Schlampe, sagte dieser Blick. Analphabetin. Frau.
„Spezialausbildung“, antwortete Bettina hochnäsig.
„Glück“, fuhr Freunscht ihr von der Seite über den Mund.“

Wie gefällt es?
Für mich ist Monika Geier eine Entdeckung, eine späte, denn „Alles so hell da vorn“ ist bereits ihr siebter Fall mit Kriminalkommissarin Bettina Boll. Ich bin komplett begeistert von diesem Krimi, von der Sprache, dem subtilen Witz und der lässigen Darstellung einer chaotischen, aber äußerst klugen Kommissarin im Gestrüpp der Pfälzer Bürokratie. Unbedingt lesen!

Monika Geier: „Alles so hell da vorn“, Ariadne im Argumentverlag, 13 EUR, ISBN: 9783867542234

Swanson Die Gerechete
hr-iNFO Büchercheck vom 13.07.2017

António Lobo Antunes: „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“

Ein Haus in Flammen. Das ist das Leitmotiv des Romans. Es kommt immer wieder vor auf den knapp 450 Seiten. Lobo Antunes erzählt von Menschen, die alle in einem Haus in Lissabon wohnen. Acht Parteien sind es vom Erdgeschoss bis zum Dach. Zusammen repräsentieren sie die portugiesische Gesellschaft, wie der Autor sie sieht: körperlich und geistig siechend, an ihren privaten Traumata ebenso leidend wie an der politischen Vergangenheit.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Unter den Hausbewohnern sind zum Beispiel Überlebende des Holocaust. Auch einstige Gegner der Diktatur, die aber von den Schergen des Diktators gebrochen und zu Spitzeln gewendet wurden. Vertreter des Bürgertums gehören dazu, wie eine Richterin oder eine Finanzbeamtin. Aber auch bizarre Protagonisten, wie ein Trinker, eine Schauspielerin und ein Offizier aus der Zeit der Kolonialherrschaft Portugals in Angola. Und schließlich der Diktator selbst. Als Untoter in den Köpfen der Menschen immer präsent und in dem Haus auf dem Dachboden. Vereinsamt sind sie alle, leben und werden getrieben von ihren Erinnerungen. Die Gewalt der Diktatur ist immer präsent. Viele verpasste, ja verbrannte Leben. Und jetzt eben das Alter. Eine verrottende Hausgemeinschaft. Zum Beispiel der Trinker, der von Frau und Tochter ausgestoßen wurde und immer wieder an die Tochter denkt.:

"Glauben Sie mir, die Tränensäcke ein Familienerbe, die Hautfarbe ein Allergieproblem, wenn ich die Tabletten alle genommen habe, geht es mir prima, ich wirke so, als würde ich beim Gehen schwanken, weil der Fußknöchel klemmt, ab fünfzig fängt die Maschine an kaputtzugehen, mal ist es dieser, mal jener Knochen, dann ist diese oder jene Niere verstopft, man geht wie ein Haus in Flammen, wir gehen alle wie Häuser in Flammen, das Schädeldach brennt, wenn wenigstens Alexandra - Papi dann wäre ich ruhig.“

Wie ist es geschrieben?
Das Haus bildet die Klammer der Romans. Die Kapitel folgen dem architektonischen Bauplan des Hauses. Diese Orientierung ist wichtig, denn Lobo Antunes erzählt nicht linear. . Die Zeitebenen sind aufgehoben Seine Figuren monologisieren in Gedankenströmen, assoziativ und sprunghaft. Und dann wird es noch unterbrochen durch die Gedanken der anderen Hausbewohner oder durch Angehörige, die in den Erinnerungen auftauchen. Eine große Vielstimmigkeit also, aber mit der Zeit lernt man die Charaktere kennen und kann sie weitgehend unterscheiden.

Wie gefällt es?
Dieses Buch hat mich gefordert. Ich habe Zeit gebraucht, mich in dieser assoziativen Vielstimmigkeit zurechtzufinden. Lesen ist hier Arbeit. Und trotzdem geht der Bauplan des Autors irgendwann auf, und dann ist das Lesen ein Vergnügen. Es hat mir Spaß gemacht, mich durch dieses Stimmengewirr durchzutasten. Der Diktator als Hausgespenst, eine großartige Idee! Manchmal taucht sogar der Autor selbst in Nebensätzen auf. Ein vielschichtiges Buch.

António Lobo Antunes: „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“, Luchterhand Verlag, 24 EUR, ISBN: 9783630875026

hr-iNFO Büchercheck vom 06.07.2017


Nicholas Searle: „Das alte Böse“
Das Buch „Das alte Böse“ des Briten Nicholas Searle fängt ungewöhnlich an: Roy und Betty, beide über 80 Jahre alt, lernen sich über ein Datingportal kennen. Sie treffen sich, sie mögen sich, und bald zieht Roy zu Betty in ihr Haus auf dem Land. Doch von Beginn an ist klar: Roy hat es eigentlich nur auf das Geld von Betty abgesehen. Tappt Betty in die Falle?

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Roy ist ein Krimineller, sein ganzes Leben hat er auf Lügen und Betrügen aufgebaut. Allmählich fühlt er sich zu alt dafür, aber noch einmal will er zuschlagen, will das große Geld machen und sich dann zur Ruhe setzen. Betty scheint das ideale Opfer zu sein: gebildet, aber naiv, intelligent, aber gutmütig. Und vor allem mit viel Geld auf dem Konto. Nur mit Widerwillen erträgt Roy das gemeinsame Leben, um an sein Ziel zu gelangen:

"Roy bricht zu einem Spaziergang auf, nur um aus dem Haus zu kommen. Betty hat sich an ihr pingeliges Putzprogramm gemacht. Also brummelte er etwas in der Art, sie in Ruhe machen lassen zu wollen, und schlurft nun mühsam das Kopfsteinpflaster entlang. Erst wenn er außer Sicht ist, kann er die Füße heben und etwas schneller gehen. Sich so gebrechlich zu stellen kostet ihn einige Mühe, aber es muss sein.
Endlich ist er weg. Offenbar bekommt man ihn nachmittags wirklich nur aus diesem Sessel, indem man zu putzen anfängt. Manchmal muss sie auch selbst das Haus verlassen und ausgedachten Tee mit ausgedachten Freundinnen trinken oder so tun, als habe sie etwas zu besorgen, damit sie sich sammeln, den Puls beruhigen und wieder gute Miene zum bösen Spiel machen kann.“

Roy hält die Fäden in der Hand, er manipuliert Betty, die scheinbar nichts bemerkt. Aber ist sie wirklich so unbedarft? Oder spielt auch sie ein Spiel mit ihm?

Wie ist es geschrieben?
Dass Roy wirklich das Böse ist, erfahren wir nicht nur durch sein Zusammenleben mit Betty, sondern auch in einigen Rückblenden, die die ganze Bandbreite seiner kriminellen Vergangenheit zeigen. Sie reicht bis ans Ende der 30er Jahre in Berlin.  Stilistisch überzeugend erzählt Autor Nicholas Searle von dem Katz- und Maus-Spiel zwischen Roy und Betty, gekonnt schafft er es, eine unterschwellige Spannung bis zum Schluss zu halten.

Wie gefällt es?
Das Buch fängt harmlos an: ja, Roy ist böse, ein Ganove alter Art, aber ist Betty nicht die Schlauere, die Intelligentere? Ich habe mich vor Roy geekelt, er hat mich angewidert, ich habe darauf gehofft, dass Betty noch irgendeinen Trumpf in der Hand hält, um diesen Menschen fertigzumachen. Und – ich kann ja das Ende eines Krimis nicht verraten– es gibt ein grandioses Finale, das alles noch einmal auf den Kopf stellt. Mich hat die intelligent und klug geschriebene Geschichte von Verbrechen und Rache absolut überzeugt.

Nicholas Searle:  „Das böse Alte“, Kindler-Verlag, 19,95 EUR, ISBN: 9783463406671


hr-iNFO Büchercheck vom 29.06.2017


Anke Stelling: „Fürsorge“
Fürsorge“, der Titel klingt nach einem Sachbuch oder auch nach einem Ratgeber für Mitarbeiter von Pflegediensten. Aber Anke Stelling hat einen Roman geschrieben, einen ganz besonderen sogar.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Achtung! Dieser Roman packt ein Tabu-Thema an: den Inzest. Nadja heißt die Protagonistin, sie ist Ende 30, war eine berühmte Balletttänzerin und hat das Tanzen gerade an den Nagel gehängt. Sie ist eine zierliche, zeitlos schöne Frau, die sich ihr Leben lang nur über ihren Körper definiert hat. Eines Tages besucht Nadja ihre Mutter und ihren 16jährigen Sohn, der bei der Großmutter aufgewachsen ist. Um ihn hat sich Nadja nie gekümmert, sie kennt ihn nicht. Und diesem großen, muskulösen jungen Mario verfällt Nadja, wie sie noch nie einem Mann verfallen ist. Es entwickelt sich eine hemmungslose sexuelle Beziehung von ungeheurer Wucht. Am Schluss des Romans bekommt Nadja ein Kind, ist also Mutter und Großmutter zugleich.

Wie ist es geschrieben?
Anke Stellings Sprache und ihr Stil sind so kühl und distanziert wie ihre Haltung gegenüber ihren Figuren. Sie schreibt präzise und pointiert, manchmal auch spitz – aber eben mit großer Distanz aus der Sicht einer Bekannten von Nadja. Mit einem Blick für die Gründe und Abgründe ihrer Protagonisten, sehr sensibel – aber wie durch ein umgedrehtes Fernrohr. Nah und fern zugleich. Man kann sich nicht fallen lassen in diese Geschichte, die Figuren sollen dem Leser fremd bleiben. Und ab und zu schlägt die bewusste Sachlichkeit auch um in eine schräge Bosheit.

" Nadja richtet sich auf, sieht zu, wie Mario aus Jacke und Turnschuhen schlüpft. Das Geräusch, das entsteht, als der eine Schuh beim Abschütteln gegen den Bettkasten stößt, lässt Nadja kurz die Augen schließen; als sie sie wieder öffnet, ist Mario schon bei ihr.
Nadja ist leicht und unnatürlich biegsam.
Mario ist schwer und unnatürlich stark.
Er betrachtet Nadja als eine seiner Trainingsmaschinen, dazu vorgesehen, die Funktionen seines Körpers zu verbessern.“

Wie gefällt es?
Der Roman provoziert, auch durch Fragen, die er stellt, aber nicht beantwortet. Was dürfen Mütter mit Söhnen machen? Und Söhne mit Müttern? Wie wäre es, wenn eine Vater-Tochter-Beziehung geschildert würde? Einmal wird im Roman die umstrittene Ausstellung „Körperwelten“ des Anatoms Gunther von Hagens erwähnt. In der ja menschliche Körper aufgeschnitten und plastiniert zur Schau gestellt wurden. Anke Stellings Roman arbeitet ähnlich: er zeigt das Intimste, das Innerste seiner Figuren, und trotzdem bleiben sie kühl und fremd. Und behalten ihr Geheimnis. Ich finde: Ein packender Roman!!

Anke Stelling: „Fürsorge“, Verbrecher Verlag 2017, 19 EUR, ISBN: 9783957322326

hr-iNFO Büchercheck vom 22.06.2017

Karl Ove Knausgard: „Kämpfen“
Er wird gefeiert wie ein Popstar. Seine Lesungen müssen in größere Säle, in Theater, manchmal sogar Hallen verlegt werden und trotzdem immer ausverkauft. Dabei schreibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard nur über sich selbst und sein wenig aufregendes Leben.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Dieses Buch ist eine Zumutung - aber das war dieses autobiografische Projekt von Anfang an. „Min Kamp“ - das ist der obsessive Versuch eines Autors, durch das möglichst  genaue Beschreiben des eigenen Lebens größtmögliche Kontrolle über dieses Leben zu gewinnen. „Kämpfen“ ist der Abschluss dieses radikalen Selbstermächtigungsprojekts und zugleich ein Nachdenken über die Bedeutung dieser Bücher für das Leben ihres Autors und der Menschen, die zu diesem Leben gehören. Es besteht aus zwei Teilen: Der erste spielt wenige Tage vor der Veröffentlichung des ersten Bandes im Jahr 2009 und handelt unter anderem von den wütenden Reaktion eines Onkels Knausgards, der die Veröffentlichung unter allen Umständen verhindern wollte. Der zweite Teil schildert die Zeit vor dem Erscheinen des dritten Bandes und vor allem die schwere Depression, die Knausgards Bücher damals bei seiner Ehefrau auslösten. Zwischen diesen beiden Teilen gibt es einen fast 500-seitigen Essay über verschiedene Schriftsteller, den Holocaust, über Hitler und darüber, welche Beziehungen zwischen seinem Mein-Kampf-Werk und dem von Knausgard bestehen.

Wie ist es geschrieben?
Das ist in diesem Fall gar nicht so eindeutig zu sagen. Der Essay über Hitlers „Mein Kampf“ ist teilweise in einem literaturwissenschaftlichen Fachjargon geschrieben, der ein flüssiges Lesen nicht unbedingt erleichtert. Bei aller Mühe, die diese Lektüre bedeutet, gelingen Knausgard dann aber immer äußert präzise Einsichten in die Natur des Totalitären im Allgemeinen und Hitler im Besonderen:

" Hitler hat erkannt, dass Gefühle immer stärker sind als Argumente und die Stärke in einem Wir, die Sehnsucht, der Traum und die Lust auf eine Gemeinschaft unendlich viel größer ist als die Kraft, die in der Fürsorge für ein Sie liegt.“

In den autobiografischen Teilen dieses Buches  schreibt Knausgard wieder in einen schnörkellosen Stil, der jedes Ereignis und jeden Gedanken genauestens protokolliert. Das wirkt auf den ersten Blick banal, entfaltet aber sehr schnell jenen Sog, für den Knausgard von seinen Fans geliebt wird.

Wie gefällt es?
Ich habe mich von diesem Erzählsog mitreißen lassen. Ich bin Knausgard 1280 Seiten fasziniert gefolgt. Ja, ich habe mich ständig gefragt, was ist daran Literatur, was daran bloß das banale Leben eines Autors ? Aber genau, das ist die Frage, um die es Knausgard geht. Er will das Verhältnis von Literatur und Leben mit einer Radikalität ausloten, wie es kaum jemand vor ihm gewagt hat. Man muss an dieser Fragestellung interessiert sein – dann ist dieses Buch ein unvergleichliches Abenteuer. Für mich war es eine 1280-seitige Offenbarung – bislang das größte Literaturerlebnis dieses Jahres.

Karl Ove Knausgard: „Kämpfen“, Luchterhand Verlag, 29 EUR, ISBN: 9783630874159

hr-iNFO Büchercheck vom 15.06.2017


Flurin Jecker: „Lanz“  

Lanz ist 14. Eigentlich will er nur einen Draht zu seiner Mitschülerin Lynn. Deswegen meldet er sich in der Projektwoche seiner Schule für einen Kurs im Bloggen an. Der wird zwar von einem Lehrer geleitet, den er gar nicht ab kann. Aber was macht man nicht alles, wenn man 14 ist und genau an das Mädchen ran will, das wie eine Göttin über den Schulflur schwebt und einen bislang nicht mal wahr genommen hat?

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Flurin Jecker erzählt in seinem Debütroman also die Geschichte eines Pubertierenden. Lanz, der Lanzelot heißt, hängt in der Luft, ist unsicher. Kein Kind mehr, noch kein Erwachsener. Verschiedene Nöte plagen ihn. Er hatte noch nie einen Kuss von einem Mädchen, geschweige denn Geschlechtsverkehr. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Eltern sich getrennt haben. Und dass beide nicht so wirklich Zeit für ihn haben, sondern mehr mit sich selbst zu tun haben. Nun sitzt er in der Schule im Projekt und weiß nicht, was er schreiben soll in seinem Blog. Verstohlen guckt er zu Lynn.

"“Hey“, sagte sie, als sie abhockte. Sie tat, als wäre sie ultra die Sekretärin, die gerade viel zu tun hat. Ich dachte, dass sie hundertprozent dachte, dass ich wegen dem Blog da war, weil ich ja jetzt schon schrieb, bevor überhaupt die Lektion angefangen hatte. Ich sagte dann so im Satz „Hey“ zurück, dann schrieb ich weiter. Und das ist dann schon sehr behindert. Ich meine, ich will ja unbedingt mit ihr reden, tue dann aber so, als würde sie mich einen Scheiß interessieren. Lustigerweise hat sie die genau gleiche Taktik. Aber das heißt ja irgendwie, dass sie will, dass ich glaube, dass sie nichts von mir will. Und das ist doch ein gutes Zeichen, oder?“

Leider kommt es anders. Lynn fährt nach dem Projekt gleich in den Urlaub, kommt nicht mal zur Abschlussparty. Lanz macht einen harten Schnitt. Er haut ab von zu Hause, fährt in die Schweizer Provinz zu Verwandten, rennt mit den Jugendlichen dort über die Felder, kifft und hat Spaß.

Wie ist es geschrieben?
Lanz schreibt in seinem Blog, was er erlebt und fühlt. Der Blog ist gewissermaßen der Roman. Flurin Jacker ist also ganz nah an seinem Protagonisten. Er schreibt nicht nur aus dessen Perspektive, auch in dessen Sprache. Die Grammatik entspricht nicht immer dem Duden, bei manchen Wörtern fehlen Silben. Manchmal ist unklar, ob Ausdrücke einem Schweizer Dialekt entstammen oder Verballhornungen aus der Jugendsprache sind. Manchmal irritiert das, aber interessant ist es allemal.. Kommt wahrscheinlich darauf an, wie alt man selbst ist.

Wie gefällt es?
Mein jüngster Sohn ist 14. Ich habe Salingers „Fänger im Roggen“ gelesen und Herrndorfs „Tschick“. Aber in Flurin Jeckers „Lanz“ habe ich am ehesten die Welt meines jüngsten Sohnes wieder gefunden. Insofern habe ich in diesem Buch ein paar Momente wieder erkannt und ein paar Dinge besser verstanden. Und es hat mir Spaß gemacht, in diese Sprache einzutauchen, die nun wirklich ganz weit weg von meiner ist. Hat sich gelohnt.

Flurin Jecker: „Lanz“ , Verlag Nagel & Kimche, 18 EUR, ISBN: 9783312010226

hr-iNFO Büchercheck vom 08.06.2017


Michela Murgia: Chirú

Mutter, Geliebte, Lehrerin – all das ist Eleonora für den jungen Chirú. Und keine der drei darf in dieser ungewöhnlichen Beziehung die Oberhand gewinnen. Was sich zwischen Eleonora und Chirú abspielt, ist sinnlich, lehrreich und emotional höchst brisant.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Eleonora ist eine renommierte, erfolgreiche Theaterschauspielerin Ende dreißig. Sie ist attraktiv, gebildet und weltgewandt. - Und hat es sich zur Aufgabe gemacht, junge Männer mit einem besonderen Talent zu fördern. Ihr neuester Schüler ist der 18jährige Chirú, ein begabter junger Geiger. Eleonora führt ihn in ihre schillernde Welt ein und macht ihn mit Künstlern und Intellektuellen bekannt. Sie lehrt ihn Menschen zu lesen, ihr Verhalten, ihre Aussagen – und auf die Details ihrer Kleidung zu achten. Sie zeigt ihm, wie wichtig es ist, sein Lebensziel zu kennen, darauf fokussiert zu sein – und wie man es – notfalls durch Verstellung – erreicht. Aber Chirú ist nicht der einzige, der durch diese Beziehung lernt. Denn die beiden entwickeln eine innige, körperliche Vertrautheit, die Chirú so sehr von Eleonora abhängig macht, wie umgekehrt.

Wie ist es geschrieben?
Michela Murgia ist eine scharfsichtige Beobachterin von Menschen und Situationen – mit einem feinen Gespür für abgründige Dialoge. Das hat sie auch ihrer Hauptfigur Eleonora mitgegeben – ebenso wie einen ziemlich amüsanten zynischen Unterton. Perfekt geeignet um zum Beispiel die frivole Party-Gesellschaft in der Prachtvilla eines römischen Produzenten auseinander zu nehmen.

"Während wir weiter hineingingen, wies ich ihn diskret auf die Flut von Presseleuten auf der Suche nach Kontakten hin, von Kritikern, Zulieferern verschiedener Presseerzeugnisse, und vor allem auf die Dutzende kräftiger, junger Männerkörper, zweifelhafte Talente mit unzweifelhaften Deltamuskeln, die wahllos und in alle Richtungen ihre Verführungskraft verströmten."

Wie gefällt es?
„Chirù“ ist die Demontage einer asymmetrischen Beziehung. Die zwischen Mentor und Schüler. Und eine aufschlussreiche Geschichte über die Formung von Menschen. Wie werden wir zu dem, der wir sind? Wie sehr beeinflussen uns dabei andere Personen in unserem Leben? Wenn man Michela Murgia folgt, ist der Einfluss erschreckend groß – und manchmal fatal.
„Chirù“ ist ein kurzer und kurzweiliger Roman, der mich immer wieder zum Lächeln gebracht hat – und zum „Mehrfach-Lesen“ von besonders geistreichen Analysen. Der leichte Hang zu Kitsch und Pathos ist geschenkt: schließlich ist die Autorin Michela Murgia Sardin – und da ticken die Leidenschaften nicht nur etwas anders -: kulturelle Unterschiede beleben auch den emotionalen Lesehorizont.

Michela Murgia: „Chirú“, Verlag Klaus Wagenbach, 20 EUR, ISBN: 9783803132871



hr-iNFO Büchercheck vom 01.06.2017


Kanae Minato: „Geständnisse“

Das Buch „Geständnisse“ von Kanae Minato führt uns nach Japan, zu einer Lehrerin, die wegen des Todes ihrer Tochter Rache nimmt. Eine Rache, die viele Menschen ins Unglück stürzt.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Yuko Moriguchi ist Lehrerin an einer Mittelschule in der Provinz, als ihre kleine Tochter Manami tot im Schulschwimmbecken gefunden wird. Ein tragischer Unfall, so das Ergebnis der Untersuchung. Aber Moriguchi hat Zweifel und findet die Wahrheit heraus: zwei Schüler ihrer Klasse haben gemeinsam Manami umgebracht. Als sie am Ende des Schuljahres ihren Abschied erklärt, berichtet sie in einer langen Rede ihren Schülerinnen und Schülern, was wirklich passiert ist. Sie nennt zwar nicht die Namen, aber alle wissen, wer die Schuldigen sind. Weil diese noch strafunmündig sind, erklärt Moriguchi zudem, in welcher Form sie den Mord rächen will: Die Täter sollen selbst nicht mehr sicher sein, noch lange zu leben. Damit setzt sie ein Drama in Gang, das sie nicht mehr unter Kontrolle hat, und das weitere Todesopfer fordert.

Wie ist es geschrieben?
Fünf Perspektiven, fünf verschiedene Geschichten, fünf Kapitel, die die Umstände des Mordes an der Tochter der Lehrerin Moriguchi erklären. Am Anfang ist es die Lehrerin selbst, die in ihrer Abschiedsrede die Wahrheit aufdeckt – doch dann gibt es auch die Wahrheiten der anderen: einer Klassenkameradin, der beiden Täter und der Mutter eines der Täter. Ein intelligentes, spannendes Konstrukt, ein Puzzlespiel, das sich im Kern um Verletzlichkeit, Zugehörigkeit, Egoismus und Anerkennung dreht und in Rache, Gewalt und Mord endet. Und am Ende scheinen alle Psychopathen zu sein, auch die Lehrerin und Mutter des Opfers.

„Nicht aus Edelmut halte ich die Identität von A und B geheim. Ich habe der Polizei nichts gesagt, weil ich der Justiz nicht zutraue, sie angemessen zu bestrafen. A hatte Manami töten wollen, war dann aber nicht der Verursacher ihres  Todes, während B sie nicht hatte töten wollen und doch ihren Tod bewirkt hat. Würde ich sie der Polizei ausliefern, dann würden sie vermutlich nicht mal in eine Erziehungsanstalt kommen; ihre Strafe würde auf Bewährung ausgesetzt werden, und die ganze Sache wäre vergessen. Ich wünschte, ich könnte A unter Strom setzen und B ertränken, wie er meine Tochter ertränkt hat.“

Wie gefällt es?
„Geständnisse“ von Kanae Minato ist ein böses Buch über die Untiefen der menschlichen Psyche, über verletzte Kinderseelen und die Auswirkung von zu starken oder zu schwachen Müttern. Über den Wahn, in den man sich steigern kann, wenn man sich vernachlässigt, verlassen und verraten fühlt. Mich hat fasziniert, wie Kanae Minato das Verhalten der fünf Protagonisten seziert, es erklärt und damit verständlich macht. Und gleichzeitig überliefen mich mehrfach Schauer des Grauens angesichts der emotionalen Kälte der Täter, die doch nach nichts mehr gieren als nach menschlicher Zuneigung.

Kanae Minato: „Geständnisse“, C. Bertelsmann-Verlag, 16,99 EUR, ISBN: 9783570102909

hr-iNFO Büchercheck vom 25.05.2017


Marco Balzano: „Das Leben wartet nicht“

Ninetto ist neun. Er lebt in einem Dorf auf Sizilien. Seine Familie ist arm. Zu essen gibt es oft nur Brot mit Sardellen. Wenn überhaupt. Ninetto ist abgemagert. Sein Spitznamen beschreibt  das treffend: Haut und Knochen. Ninetto liebt seine Mutter, aber nach einem Schlaganfall muss sie in ein Heim. Ninetto bleibt beim Vater, der schickt ihn weg. Mit einem Bekannten aus dem Ort fährt er nach Mailand, um dort einen Job zu finden.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Marco Balzano erzählt in seinem Roman am Beispiel Ninettos die Geschichte der italienischen Kinderemigranten. Männer, die heute Ende 60 sind, wurden aus ihren Familien heraus gerissen und fanden sich nach langer Zugfahrt irgendwo in der Industrieregion um Turin, Mailand und Genua wieder. Dort lebten sie in mehr oder weniger prekären Wohnverhältnissen. Vom ersten Tag an mussten diese Kinder für ihr Überleben arbeiten. Ninetto findet einen Job als Fahrradbote bei einer Wäscherei. Natürlich wird er ausgebeutet. Als er älter wird, arbeitet er bei Alfa Romeo.

„Die Geschichte ist in zwei Minuten erzählt, da brauche ich nicht nach Wörtern zu suchen, die ich kenne. Vier Jahre am Fließband die Drehmaschine überwachen und weitere achtundzwanzig auf einem Gabelstapler – das bin ich. Jeden Tag neun Stunden pro Tag Motorteile hochhieven und sie von einem Ort zum anderen transportieren, Ende. Stopp. Ein Roboter, kein Mensch. Ein mechanischer Arm, kein schlagendes Herz…“

Ein Leben voller Enttäuschungen und Abstumpfungen, getrieben von ein wenig Hoffnung. Er heiratet, bekommt eine Tochter, setzt sich in der Gewerkschaft ein. Doch dann, als er die Tochter in den Armen eines Mannes sieht, gehen seine Emotionen mit ihm durch. Er sticht auf den jungen Mann ein, kommt ins Gefängnis. Als er wieder rauskommt, findet er sich nicht mehr zurecht.

Wie ist es geschrieben?
Marco Balzano erzählt die Geschichte konsequent aus der Perspektive Ninettos in der Gegenwart und in Rückblenden. Es ist ein einfaches und direktes Erzählen, aber dieser Ich-Erzähler hat Distanz zu sich und er ist ein poetischer Mensch. Dadurch entstehen sehr atmosphärische und zugleich dokumentarisch genaue Bilder. Es ist ein authentisches und reizvolles Erzählen. Seite für Seite gewinnt die Figur an Tiefe. Mitleid verdient sie ohnehin.

Wie gefällt es?
Ich habe „Das Leben wartet nicht“ sehr gerne gelesen. Es ist ein Roman voller Wahrheiten und echten Gefühlen. Er ist gut recherchiert. Und er hat mir ein Fenster geöffnet auf eine Welt, die ich vorher nicht kannte. Eine Welt übrigens, in der die Hoffnung bleibt. Ich finde, das ist – unterm Strich - viel.

Marco Balzano: „Das Leben wartet nicht“, Diogenes Verlag, 22 EUR, ISBN: 9783257069839

hr-iNFO Büchercheck vom 18.05.2017


Doris Knecht: „Alles über Beziehungen“

„Alles über Beziehungen“, dieser Titel klingt nach einem Sachbuch oder nach einem Beziehungs-Ratgeber. Das ist möglicherweise so beabsichtigt, aber führt uns auf eine völlig falsche Fährte: „Alles über Beziehungen“ ist der vierte Roman von Doris Knecht.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Viktor heißt der Protagonist, er ist Regisseur und wird demnächst 50. Ein relativ unscheinbarer Durchschnittstyp voller Minderwertigkeitskomplexe, die er mit Arroganz kompensiert. Viktor ist umgeben von einer Traube von Frauen: eine Ehefrau und zwei Ex-Frauen. Fünf Töchter aus drei Ehen. Schauspielerinnen, Mitarbeiterinnen, Frauen, die ihn bewundern oder vielleicht auch nur ausnutzen. Weil Viktor sich oft so schwach und klein fühlt, lässt er sich von ein paar Geliebten trösten. Und damit er sich nicht allzu mies vorkommt, stilisiert er sich vom Täter zum Opfer: Ein Therapeut bescheinigt ihm auf dringende Anfrage hin eine Sexsucht.

„Es ging Viktor nun mal besser, wenn Viktor auch noch mit anderen Frauen schlief, weil Viktor, das musste er sich selbst mitunter eingestehen, ein bisschen ein Narzisst war, weil er sich und seine leider nicht offensichtliche, aber wenig bestreitbare Groß- und Einzigartigkeit gerne gespiegelt sah in den Augen von Frauen, bei denen er sich noch nicht abgenutzt hatte. .. Und weil er eben hypersexuell war.“

Wie ist es geschrieben?
Witzig und sehr pointiert! Weil Doris Knecht eine intelligente Erzählerin ist, die nicht oder kaum übertreibt nicht, sondern dosiert. Sie führt Viktors Sexsucht z.B. ad absurdum, indem sie diese fast ernst zu nehmen scheint und nur durch die eine oder andere flapsige Bemerkung entlarvt. Dazu kommen eine Menge komischer Dialoge und Analysen von komplizierten emotionalen Gemengelagen. Viktor will sich z.B. an keine Geliebte binden, trennt sich sofort, wenn Ansprüche angemeldet werden. Ist aber umgekehrt total beleidigt, wenn eine Frau Schluss mit ihm macht. Er selbst ist einfach zu schwach – oder besser: zu kindlich-genusssüchtig - um klar Schiff zu machen.

Wie gefällt es?
Ich habe mich bestens amüsiert. Doris Knecht schreibt scharfsinnig, scharfsichtig, spannend und schlau. Wobei die Komik auch gebrochen wird, weil es einen ernsten Erzählfaden gibt. Magda nämlich, Viktors Frau, erfährt ja, dass er sie seit Jahren permanent betrügt. Für Magda stürzt in diesem Moment ihr ganzes Leben ein. Aber sie wächst über sich hinaus, während Viktor in seiner Egozentrik stecken bleibt. Ein bisschen böse ist dieser Roman, und sehr unterhaltend. Nicht nur für Frauen!!

Doris Knecht: „Alles über Beziehungen“, Rowohlt Verlag, 22,95 EUR, ISBN: 9783871341687

hr-iNFO Büchercheck vom 11.05.2017


Julia Wolf: „Walter Nowak bleibt liegen“

Walter Nowak geht es dreckig. 68 Jahre ist er, hält sich für topfit und schwimmt jeden Tag tausend Meter. Aber jetzt liegt er nackt auf dem Boden seines Badezimmers, ist mehr oder weniger orientierungslos, weiß nicht, was ihm passiert ist. In seinem Kopf zucken die Gedanken wild durcheinander. Wie ein ungeschnittener Film spult das Hirn sein Leben ab.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Walter Nowak ist ein Selfmade-Man. Vaterlos wächst er auf. Der Vater, ein GI, ist weg. Im Ort, Friedberg ist erkennbar, wird er als Bastard beschimpft. Ein verletzliches Kind. Walter hängt an der Mutter. Er heiratet, hat einen Sohn, verlässt die Familie für eine jüngere Frau, die ihn sexuell anzieht. Er steht auf Pferdeschwanz. Er baut aus dem Nichts ein Unternehmen auf und verliert es irgendwann wieder. Auch den Sohn verliert er, weil es ihm nicht gelingt, einen positiven Kontakt, eine Beziehung zu dem Kind auf zu bauen. Stattdessen orientiert er sich an tradierten Männlichkeitsidealen und Leistungsparolen, spielt den Patriarchen, gockelt rum, macht sich lächerlich. Aber das erkennt er nicht. Erst zum Schluss, als er – peinlich, peinlich - hilflos und nackt neben der russischen Putzfrau am Boden seines Bades liegt, dämmert ihm, dass sein Leben gescheitert ist, dass der Knock out das Ende einer Krisenspirale markiert.

Wie ist es geschrieben?
Julia Wolf inszeniert Walter Nowaks Leben auf knapp 160 Seiten als Gedankenstrom. Sein Hirn denkt und erinnert was und wie es will. Zeitebenen schieben sich ineinander, Inhalte brechen ab um irgendwann später wieder auf zu tauchen. Gedankensplitter. Sogar die Sätze bleiben manchmal unvollendet. Man muss assoziieren, wie sie weiter gehen könnten. Und schon schiebt sich eine neue Erinnerung oder Überlegung über das gerade Gelesene. So folgen wir Walter Nowak zum Beispiel auf einer halben Seite zunächst ins kalte Schwimmbad, dann zu seiner Frau, weiter zu seiner Urologin und enden schließlich bei der Putzfrau.

„Erst die Pflicht, dann das. Hin und zurück sind es fünfzig, zehn mal fünfzig, das sind fünfhundert, mal zwei, das ist doch, ordentlich. Da soll noch mal einer. Hören Sie mal, Frau Doktor, Frau wie auch immer Sie heißen, ich schwimme jeden Morgen tausend Meter, das ist ein Kilometer, für Sie, zum Mitschreiben. Jeden Morgen. Dieser Ausdruck in Yvonnes Gesicht. Sie muss zugeben, das ist ordentlich, das ist nicht von schlechten. Da können sie sagen, was sie wollen, komme wer wolle uns sagt, wer wolle, sagt was, wolle komme, sage, was?“

Wie gefällt es?
Es fällt nicht immer leicht, diesem irrlichternden Gedankenschwall zu folgen. Aber ich habe mich drauf eingelassen und dann funktioniert es nicht nur, es macht sogar Spaß. Denn dahinter steckt ein virtuoser Umgang mit Sprache. Julia Wolf hat es drauf. Die beschädigte Sprache ist der adäquate Ausdruck für das geschädigte Gehirn und den beschädigten Menschen. So wird der Unsympath im Lauf der Geschichte zu einer bemitleidenswerten Figur.

Julia Wolf: „Walter Nowak bleibt liegen“, Frankfurter Verlagsanstalt, 21,- EUR, ISBN: 9783627002336

hr-iNFO Büchercheck vom 04.05.2017


Takis Würger: „Der Club“
Takis Würger führt uns mit seinem Debüt „Der Club“ in die elitären Zirkel der britischen Universitäten. Zu Studenten, die sich zu etwas Besserem berufen fühlen und dabei jeglichen Skrupel ablegen.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Hans Stichler ist ein körperlich schwacher Junge, in der Schule wird er gemobbt, er lernt das Boxen, um stärker zu werden. Als seine Eltern früh sterben, er muss ins Internat – und als er das Abitur abgelegt hat, bittet ihn seine Tante Alex, an die Universität Cambridge zu kommen, an der sie selbst lehrt. Er solle dort, so sagt sie ihm, Mitglied des Pitt Clubs werden und herausfinden, was die Boxer der Universität dort machen. Es gehe um ein Verbrechen. Hans, einsam, sensibel und ohne Halt, verlässt Deutschland und zieht nach England. Seine Tante Alex macht ihn mit Charlotte bekannt, einer jungen Frau, in die er sich schnell verliebt. Und – er boxt, und das sogar sehr erfolgreich. Doch was ist mit dem Verbrechen, das er aufklären soll? Er fragt Charlotte:

„„…Das sind Verbrecher in diesem Club“, sagte sie.
„Ja, ich verstehe“.
„Ich hoffe es“.
„Was haben sie überhaupt getan?“, fragte ich.
„Alex meint, ich soll dir das nicht sagen.“
„Woher kennst Du Alex überhaupt?“
„Sie betreut meine Doktorarbeit.“
„Und woher kennst du diesen Club? Ich dachte, da sind nur Männer?“
Ihr Mund sah weich aus. Kurz schwieg sie.
„Du hast deine drei freien Fragen des Monats gestellt“, sagte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.“

Wie ist es geschrieben?
Behutsam, vorsichtig voran tastend erzählt Takis Würger in „Der Club“ die Geschichte des schüchternen Studenten Hans, der benutzt wird, um ein Verbrechen aufzuklären. Aus verschiedenen Perspektiven erfahren wir, wie ein schon Jahrzehnte alter Ritus dieses Pitt Clubs aufgedeckt wird, der in seiner monströsen Abscheulichkeit erschreckt und verwirrt. Takis Würger führt langsam zum Kern des Geschehens hin, erst am Ende ist das Buch wirklich ein Kriminalroman, schildert es Verbrechen und Aufklärung.

Wie gefällt es?
Ich war selten so tief berührt von der Erzählung eines Verbrechens und seiner Konsequenzen– einer Straftat, über die sowohl in der Realität als auch in Kriminalromanen schon vielfach berichtet wurde. Aber Takis Würger hat mich das alles auf eine ungewöhnlich intensive Art spüren lassen, die Verzweiflung der Opfer wie auch die Überheblichkeit der Täter – das ist phänomenal und einzigartig. Ein literarischer Hochgenuss, der so wichtige Dinge wie Gerechtigkeit, Moral, Rache und vor allem Wahrheit verhandelt. Ein grandioses Buch.

Takis Würger: „Der Club“, Verlag Kein & Aber, 22 EUR, ISBN: 9783036957531  

hr-iNFO Büchercheck vom 27.04.2017


Bill Clegg: „Fast eine Familie“
„Fast eine Familie“ heißt der Debütroman des 47-jährigen amerikanischen Autors Bill Clegg. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller ist dieser Bill Clegg ein renommierter New Yorker Literaturagent. Er weiß also mutmaßlich, was einen guten Roman ausmacht.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Am Anfang dieses Romans steht  die Katastrophe - eine Explosion, die ein ganzes Haus zerstört und vier Menschen in den Tod reißt. Es ist das Sommerhaus einer New Yorker Kunstagentin, deren Tochter dort am nächsten Morgen heiraten sollte. Die Tochter und der Bräutigam gehören zu den Opfern, ebenso der Exmann und ihr Geliebter – June, jene Kunstagentin, ist vollkommen verstört, setzt sich in das Auto des Brautpaars und fährt los, immer weiter – bis sie im Auto irgendwann die Tagebücher ihrer Tochter entdeckt und sich von denen quer durch die USA leiten lässt, auf einer Art Trauerreise.

Wie ist es geschrieben?
Erzählt wird aus elf verschiedenen Perspektiven, mit den Stimmen von elf Menschen, von denen jeder in einer Beziehung zu den vier Todesopfern stand – und aus diesen Erzählungen setzt sich nach und nach die Geschichte dieser Katastrophe zusammen – wobei nicht nur erzählt, wie es zu dieser Explosion gekommen ist – es gibt da auch einen Schuldigen, aber das Faszinierende und Wunderbare dieses Buches ist, dass aus der Frage nach der Schuld die Frage danach wird, was die Menschen trennt und was sie trotz aller Spannungen und aller Unterschiede miteinander verbindet. Mit jeder neuen Stimme, mit jeder neuen Perspektive verändern sich  die Figuren, verschiebt sich – wie in einem Kaleidoskop unser Bild dieser amerikanischen Gesellschaft, die June, die Kunstagentin von Ost nach West durchfährt, bis sie am Schluss an der Pazifikküste zur Ruhe kommt – was Bill Clegg in ein letztes großartiges Bild der Entspannung fasst:

„Und kein Mensch wird sich an uns erinnern – wer wir waren und was hier geschehen ist. Sand wird über die Pacific Avenue und gegen die Fenster des Moonstone Motels wehen, und neue Menschen werden kommen und den Strand hinunter zum großen Ozean gehen. Sie werden verliebt sein oder verloren, und sie werden keine Worte haben. Und das Rauschen der Wellen wird für sie klingen wie für uns, als wir es das erste Mal gehört haben.“

Wie gefällt es?
Der Roman entwickelt einen Sog, obwohl oder gerade weil er so unspektakulär und ganz nah bei den Figuren bleibt. „Fast eine Familie“ ist auf den ersten Blick kein politischer Roman, sondern ein Roman, der nur im Privaten spielt – aber dieses Private erweist sich als äußerst politisch. Dieser Roman zeigt ein Amerika, in dem sich Menschen umeinander kümmern, ein Amerika, in dem Menschen trotz aller Unterschiede für einander da sind, die sich unterstützen, ihre Differenzen überwinden, um das, was in Trümmern liegt, wieder aufzubauen. Das ist rührend ohne kitschig zu sein, das ist intensiv ohne pathetisch zu werden, und es ist so ganz anders als das grelle Bild eines lauten und rücksichtslosen Amerika, das derzeit Konjunktur zu haben scheint. Insofern ist „Fast eine Familie“ auch ein Anti-Trump-Roman und zwar ein sehr guter.

Bill Clegg: „Fast eine Familie“, S. Fischer Verlag, 22 EUR, ISBN: 9783100023995

hr-iNFO Büchercheck vom 20.04.2017


Annie Proulx: „Aus hartem Holz“
Wenn Sie noch eine Erinnerung an „Lederstrumpf“ haben, dann fühlen Sie sich in Annie Proulx neuem Buch fast ein bisschen wie zu Hause. Ihre Geschichte beginnt im späten 17. Jahrhundert im Grenzgebiet zwischen den französischen und englischen Kolonien an der Ostküste Nordamerikas. Der eigentliche Held ist die Natur. Der Urwald Nordamerikas. Für die Indianer ist er Lebensraum, der sie ernährt, dem sie sich anpassen. Für die Kolonisten ist er Nutzfläche, die sie ausbeuten.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Annie Proulx erzählt die Geschichte dieser rücksichtslosen Landnahme von ihrem Beginn Ende des 17. Jahrhunderts bis in unsere Zeit. Im Mittelpunkt stehen zwei französische Einwanderer und ihre Nachfahren. Einer ist René Sel, ein geschickter Holzfäller, der eigentlich nur ein eigenes Stück Land bewirtschaften will und eine Indianerin heiratet.  Der andere ist Charles Duquet, ein schwacher, aber gerissener und skrupelloser Geschäftemacher der schnell zu Geld und Ansehen kommt und sich eine Frau aus Frankreich besorgt. An diesen beiden und ihren Nachfahren stellt Proulx die Schicksale der Menschen, ihre Chancen und ihre Verlorenheit dar. Die einen bauen ein Holz- und Handelsimperium auf, die anderen fühlen die Zerrissenheit zwischen indianischer und französischer Herkunft immer wieder und kommen nicht auf die Erfolgsspur. Irgendwann kreuzen sie sich dann. Und immer stehen diese Menschen und ihr Tun in einem Wechselverhältnis zur Natur. Entweder versuchen sie im Einklang mit ihr zu leben oder sie versuchen, sie sich zu unterwerfen. Am Ende sterben sie natürlich alle, oftmals weil sie die Kraft der Natur unterschätzen.

Wie ist es geschrieben?
Proulx erzählt die Geschichte chronologisch durch die Jahrhunderte. Man kann das Buch fast wie einen Abenteuerroman lesen oder wie ein erzählendes Geschichtsbuch. Proulx lässt immer wieder komplexe und interessante Charaktere entstehen, aber ihre eigentliche Zuneigung gilt der Natur. Ihre Landschaftsbeschreibungen der Wälder zeugen von großer Liebe und Achtung, aus den Bildern spricht die ohnmächtige Wut der Autorin auf die Ausbeuterkultur ihres Landes. Das wird zum Beispiel deutlich, als sie einen Pastor über die hungernden Indianer sagen lässt:

„Wer hungert da? Indianer, sagst du? Du weißt gar nicht, wie oft ich diese Klage höre, aber wir leben in einer Zeit, in der die Rothaut den Platz räumt und von tatkräftigen europäischen Siedlern ersetzt wird. Der Indianer muss lernen, zu arbeiten und seinen Lebensunterhalt zu verdienen, einen Garten anzulegen und Vorräte für den Winter einzulagern. Wohltätigkeit schiebt das Unausweichliche nur hinaus.“

Wie gefällt es?
Mich hat „Aus hartem Holz“ von der ersten Seite an gepackt und nicht mehr los gelassen. Es ist eine gut recherchierte Geschichte mit Akteuren, die man lieben, bewundern, bemitleiden oder verachten kann. Vor allem ist es eine Geschichte mit einer klaren Botschaft: Beutet die Natur nicht aus. Dass diese Botschaft aus jeder Seite herausdringt, mag man als störend empfinden. Für mich ist sie das Vermächtnis einer großartigen Autorin.

Annie Proulx: „Aus hartem Holz“, Luchterhand Verlag, 26 EUR, ISBN: 9783630872490   

hr-iNFO Büchercheck vom 13.04.2017

Karine Tuil: „Die Zeit der Ruhelosen“
Es herrscht Krieg in Karine Tuils Roman. Wortwörtlich und im übertragenen Sinn: „Die Zeit der Ruhelosen“ erzählt von Gewalt – in Afghanistan, in der französischen Gesellschaft und in der intimen Paarbeziehung. - Die einstige Grande Nation ist tief gespalten, eine verkrustete Klassengesellschaft, in der jeder seine Ellenbogen einsetzen muss, um nicht unterzugehen. Und in der keiner seiner Herkunft entkommen kann.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Um vier Hauptfiguren, deren Lebenswege sich früher oder später kreuzen.
Da ist Romain, ein junger Mann aus der Banlieue, der seine einzige Perspektive im Militärdienst sah, und der jetzt traumatisiert aus Afghanistan zurückkehrt.
Da ist François, ein Aristokrat und milliardenschwerer Unternehmer, dem plötzlich seine jüdische Herkunft zum Verhängnis wird – obwohl er seine Religion überhaupt nicht lebt.
Da ist Marion, die engagierte Journalistin, die – wie schon früher als Pflegekind – noch heute gerne provoziert und sich quer stellt. Und dann ist da noch Osman. Seine Eltern stammen von der Elfenbeinküste, er selbst ist gebürtiger Franzose. Er hat es weit gebracht: bis in den Elysee-Palast, als Berater des Präsidenten.

„Osman übte eine unglaubliche Anziehungskraft aus. (…) Er trug dunkle Anzüge von lässiger Eleganz und kaschierte so die Unerbittlichkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, die da lauteten: die Konkurrenz ausschalten, Siege erringen, Kämpfe bestehen, sich immer höher hangeln.“

Doch Osman stürzt tief – und muss sich eingestehen, dass er bloß der schwarze Vorzeigemigrant der Regierung war. Dass er nie wirklich dazu gehören wird, weil er nicht  die Elite-Hochschulen der Mächtigen besucht hat.

Wie ist es geschrieben?
Karine Tuils seitenstarker Roman – 512 sind es – erinnerte mich ein wenig an Jonathan Frantzens große Gesellschaftsromane. Die kurzen Kapitel sind schnell montiert, der Aufbau ist komplex, die Wege der verschiedenen Figuren sind elegant miteinander verwoben. Der Tonfall ist locker, lässig, mündlich. Humor spielt bei Tuil aber keine so große Rolle. Manchmal fehlte mir der entlastende Lacher. Dafür hat Karine Tuil die Milieus verblüffend kenntnisreich und realistisch gestaltet. Das ist besonders spannend, wenn es um die Banlieues und die gescheiterte Integration in Frankreich geht. Karine Tuil zeichnet ihre Figuren überzeugend plastisch und einfühlsam. Man kann ihnen verdammt nahe kommen – und leidet dafür umso mehr bei ihrem Absturz.

Wie gefällt es?
Ich habe diesen Roman verschlungen! Wer verstehen will, wie es um die französische Gesellschaft heute steht, der kommt um „Die Zeit der Ruhelosen“ nicht herum. Aber Achtung: Die Lektüre macht nicht nur schlauer, sondern auch ganz schön melancholisch.

Karine Tuil: „Die Zeit der Ruhelosen“, Ullstein Verlag, 24 EUR, ISBN: 9783550081750

hr-iNFO Büchercheck vom 06.04.2017

Agustín Martínez: „Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen“
Es geht nach Spanien, in ein kleines Dorf in den Hochpyrenäen. Hier sind vor fünf Jahren zwei elfjährige Mädchen spurlos verschwunden. Dieses Ereignis lastet noch immer auf den Bewohnern, da taucht eines Tages eines der Mädchen wieder auf.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Ein Auto ist in eine tiefe Schlucht gestürzt, nur die Beifahrerin, ein 16jähriges Mädchen, hat verletzt überlebt. Verwunderung und Freude sind groß, als man feststellt, dass es Ana ist, eines der beiden Mädchen, die vor fünf Jahren verschwanden. Doch wo ist Lucía, ihre beste Freundin? Aus Ana ist nur wenig herauszubekommen. Die aus Madrid angereiste Kommissarin Sara Campos nimmt die Suche nach dem Entführer auf.

Ana hatte ihnen im Krankenhaus gesagt, dass der Mann sie nicht angerührt hatte. Dass er sie all die Jahre mit Missachtung gestraft hatte wie einen lästigen Störenfried. Doch der medizinische Bericht sagte etwas anderes. Ana hatte sexuelle Beziehungen gehabt, auch wenn sich nicht sagen ließ, wie oft oder wie häufig. Aber sie hatte vor mindestens zwei Jahren ihre Jungfräulichkeit verloren.

„Meinst du, sie hat auch gelogen, als sie behauptete, dass sie sein Gesicht nie gesehen hat?“, fragte Sara.
Mittlerweile erschien ihnen Anas ganze Aussage zweifelhaft. Es konnte alle möglichen Gründe für ihre Lügen geben, von Scham bis zu einer Blockade.
„Ich weiß, es klingt verrückt … Aber was ist, wenn Ana gar nicht will, dass wir Lucía finden?“, fragte Sara.

Ana benimmt sich merkwürdig – aber will sie wirklich den Täter schützen und verhindern, dass ihre Freundin gefunden wird?

Wie ist es geschrieben?
Agustín Martínez erzählt mit einer klaren Sprache eine wahnsinnig spannende Geschichte. Im Mittelpunkt das fast von der Außenwelt abgeschnittene Dorf: man spürt förmlich die  klaustrophobische Enge, diesen erzwungenen Zusammenhalt, ohne den niemand überleben könnte. Die Landschaft, das kleine Dorf in einer spektakulären Gebirgskulisse in den Hochpyrenäen, spielt dabei eine wichtige Rolle – manchmal sind diese Beschreibungen etwas zu gewollt geheimnistuerisch und  wirken übertrieben. Das mindert aber nicht das enorme Lesevergnügen.

Wie gefällt es?
Bei nur wenigen Büchern muss ich mich ermahnen, es nicht in einem Rutsch auszulesen, weil es so spannend ist: bei „Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen“ ist es mir passiert. Da häufen sich dramatische Ereignisse, es gibt weitere Tote, die Kommissarin selbst ist unter Druck und manchmal hilflos – und irgendwann sind alle Dorfbewohner höchst verdächtig. Das ist sehr fein konstruiert und überzeugend geschrieben. Unbedingt empfehlenswert!

Agustín Martínez: „Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen“ , S. Fischer Verlag, 14,99 EUR, ISBN: 9783596036585

hr-iNFO Büchercheck vom 30.03.2017

Natascha Wodin: „Sie kam aus Mariupol“
Es ist ein magischer Moment. Natascha Wodin, die Autorin, sitzt in ihrem Haus an einem See in Mecklenburg am Computer und tippt den Namen ihrer Mutter in eine Suchmaschine. Und das Internet spuckt tatsächlich rudimentäre Informationen über die Mutter aus, von der Wodin bis dahin so gut wie nichts wusste. Nur, dass sie aus dem ukrainischen Mariupol stammte und in Bayern starb, wo sie verzweifelt am eigenen Leben ins Wasser ging. Ihre Tochter Natascha war damals noch in der Grundschule.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Die Tochter forscht weiter, findet in Russland in einem Familienforscher einen Unterstützer, der ihr weiter hilft. Woche für Woche treten neue Details zutage. Noch lebende Verwandte tauchen auf, weitere Dokumente, Tagebücher und Fotos. Natascha Wodin rekonstruiert die Geschichte ihrer Familie. Und damit gleichzeitig das Schicksal einer Familie des 20. Jahrhunderts zwischen Reichtum und Verelendung. Zunächst ein glanzvolles Leben im Zarenreich. Doch dann kommen die russische Revolution und mit ihr Enteignung und Demütigung. Die Familie verliert sich. Und schließlich die Ausbeutung durch das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Die Eltern Nataschas landen als Zwangsarbeiter in Leipzig. Es gelingt ihnen nach Kriegsende in Süddeutschland zu bleiben. In Bayern leben sie zunächst in einem Schuppen, schließlich in Lagerunterkünften für ehemalige Zwangsarbeiter. Dort wächst Natascha Wodin auf. Erst nach diesen Recherchen hat sie Gewissheit über ihre eigene Geschichte und ihre Wurzeln.

„Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. Jahrzehntelang wusste ich nichts von meinem eigenen Leben. Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war.“

Wie ist es geschrieben?
Das Buch ist weder Dokumentation, noch Autobiografie oder gar Roman. Es vereint Elemente von alledem und führt sie zusammen. Wodin erzählt die Schreckensgeschichte ihrer Familie anhand vieler Dokumente oder anhand von Forschungsergebnissen. Manches erdenkt sie sich aber auch, erschließt sie sich auf der Basis des Vorgefundenen. Auch wenn die Sprache eher sachlich ist, fließt ein poetischer Grundton von Seite zu Seite. Dadurch sticht das Ungeheuerliche dieser Leben umso wirkungsvoller hervor und bleibt doch erträglich beim Lesen.

Wie gefällt es?
Ich finde, „Sie kam aus Mariupol“ ist ein großartiges Buch. Es ist so wirkungsvoll, weil es eben nicht eine auf maximale Wirkung getrimmte Fiktion präsentiert, sondern literarisch verdichtetes reales Leben. Ein Leben, das vor allem aus Leiden besteht, bis zur bitteren Konsequenz, dem Freitod. Es ist ein Buch, das vergessene und verdrängte Schicksale unsterblich macht und denen, die sie erlitten haben, ein Denkmal setzt. Also ein wichtiges Buch für den deutschen Literaturkanon. Es schließt eine Lücke.

Natascha Wodin: „Sie kam aus Mariupol“, Rowohlt, 19,95 EUR, ISBN: 9783498073893     


hr-iNFO Büchercheck vom 23.03.2017

Alissa Walser: „Eindeutiger Versuch einer Verführung“  
Die Schriftstellerin Alissa Walser, Jahrgang 1961, ist – ob in ihren Prosatexten, Gedichten oder Theaterstücken – eine sehr genaue Beobachterin menschlicher Beziehungen. Sie findet einen spielerischen, assoziativen Zugang zu den Gefühlen und Befindlichkeiten ihrer Figuren, und damit auch zum Leser.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Eindeutiger Versuch einer Verführung“ – der Titel verführt! Alissa Walsers neues Buch ist eine Sammlung von kurzen Episoden, Szenen, Dialogen und Beobachtungen. Die Autorin erzählt von Zufallsbekanntschaften im Kino und im Supermarkt, in der U-Bahn oder Gärtnerei. Sie konstruiert Mutter-Tochter-Dialoge, in denen sich in aller Kürze ein ungutes Machtverhältnis ausdrückt. Und sie schildert Szenen aus dem Alltag eines Paares, die wie Ausschnitte aus einem Beziehungsroman wirken, in denen Empfindlichkeiten, Missstimmungen, Enttäuschungen angedeutet werden, das ganze schwierige Geschäft des Zusammenlebens.

Wie ist es geschrieben?
Durch die wechselnden Erzählhaltungen, Orte und Figuren, die sehr unterschiedliche Themen und auch Formen der 57 kleinen Texte, entsteht der Gesamteindruck eines Mosaiks, das bewusst unfertig belassen wurde. Allerdings kommt mir manches unmotiviert vor, so dass es mir schwer fiel, der inneren Entwicklung oder inneren Logik einzelner Episoden zu folgen. Was mir gut gefällt ist die schnörkellose, oft lyrisch angehauchte Sprache. Sprache, das zeigt sich hier wieder, kann beides: Menschen trennen und verbinden. Sie macht sichtbar, was wir sonst nicht wahrnehmen. Alissa Walsers Sprache schwebt in manchen Szenen federleicht über ihren Figuren.

„Abends steigt sie aufs Trampolin, das auf der Terrasse steht. Abwechselnd springt und läuft sie im Rhythmus. Hoch, hoch, immer wieder hoch, ohne nach vorn Raum zu gewinnen, dafür nach oben, Raum den sie jedoch gleich wieder verliert. Und wenn der Wind die leichten weißen Gardinen in Wellen durch die geöffneten Fenster schiebt, fühlt sie sich von drinnen angesprochen.“

Wie gefällt es?
Ich habe „Eindeutiger Versuch einer Verführung“ mit gemischten Gefühlen gelesen. Da gibt es eindringliche kleine Portraits, Momente intensiver Poesie, aber auch immer wieder Gedanken, Aussagen und Bilder, die mir nicht einleuchten. Vielleicht kann man es so sehen: Alissa Walser möchte uns verführen. Zum Schauen oder auch zum Innehalten. Erst wenn wir bereit sind uns darauf einzulassen, dass es primär gar nicht um die Handlung geht, sondern um die von ihr ausgelösten Empfindungen und inneren Vibrationen, dann können viele dieser kleinen Texte uns auch verführen.

Alissa Walser: „Eindeutiger Versuch einer Verführung“,  Hanser 2017, 17 EUR, ISBN:  9783446254541

hr-iNFO Büchercheck vom 16.03.2017

Benjamin Lebert: „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“  
Benjamin Lebert war einer der Stars der deutschen Popliteratur. Sein autobiografischer Roman „Crazy“ war 1999 ein Bestseller. Mit „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“ hat er jetzt einen neuen Roman vorgelegt.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Im Frühjahr 2015, das erzählt Benjamin Lebert im Nachwort zu seinem Buch, im Frühjahr 2015 war er einige Wochen in Nepal, um dort für ein Kinderhilfsprojekt zu arbeiten und diese Erfahrungen waren der Auslöser für diesen Roman. Darin erzählt er von drei Kindern, die von ihren Eltern nach Indien verkauft worden waren, wo sie als Arbeits- oder Sexsklaven arbeiten mussten. Das sind der fünfzehnjährige Achanda, die vierzehnjährige Shaki und der zehnjährige Tarun. Alle drei sind traumatisiert und träumen verzweifelt von einer besseren Zukunft. Gerade dadurch werden sie zu Opfern von neuer Gewalt, Verrat und Missbrauch.

Wie ist es geschrieben?
Benjamin Lebert lässt die drei Kinder immer wieder abwechselnd zu Wort kommen. Dadurch erhält der Roman eine scheinbar leichte kindliche Direktheit. Diese Kinder sprechen zu uns über ihre Hoffnungen, Träume und Ängste, genauso wie sie ihre tiefsitzenden Gewaltfantasien formulieren, die vor allem aus dem zehnjährigen Tarun immer wieder hervorbrechen.
Tatsächlich ist die Gewalt in diesem Roman nicht nur eine soziale Gewalt, es ist auch die Gewalt der Natur und die hat Benjamin Lebert noch auf eine andere, raffinierte Weise in seinen Text integriert. Er selbst hat Nepal 2015 genau neun Tage vor dem verheerenden Erdbeben verlassen, dem mehr als 8000 Menschen zum Opfer fielen und in neun Tagen wird jetzt auch das Geschehen dieses Romans erzählt. Es sind die letzten neun Tage vor der Katastrophe, die sich unterschwellig immer stärker ankündigt, in kleinen Beobachtungen der Kinder, aber vor allem durch die empfindliche Wahrnehmung eines Straßenhundes, dem Lebert immer wieder eine Stimme gibt:

„Es zieht ihn zu der Stelle, an der er die Kraft zu ersten Mal gespürt hat. Die gewaltige Kraft aus der Tiefe: anders als alles, was er in seinem zornigen, keifenden Hundeleben jemals wahrgenommen hat. Er tritt langsam auf, vorsichtig, jede Berührung seiner rissigen Pfoten mit dem Boden schmerzt. Und doch sind alle Sinne aufmerksam auf den Grund gerichtet. Auf die Erdmassen unter ihm. Endlich erreicht er die Stelle und legt sich nieder. Wartet. Stunde um Stunde wartet er. Auf die gewaltige Kraft aus der Tiefe. Vergeblich.“

Wie gefällt es?
„Die Dunkelheit zwischen den Sternen“ ist ein Buch, das mich als Leser am Anfang kaum und dann doch immer mehr gepackt hat. Zunächst ist da die scheinbar naive und unschuldige Kinderwelt, die aber nach und nach ihre Abgründe offenbart, und wenn man dann begreift, dass Lebert hier unerbittlich den Countdown zur schrecklichen Katastrophe erzählt, ist es zu spät und man kann sich dem Sog des Buches nicht mehr entziehen. Benjamin Lebert ist ein spannender Roman gelungen, mit viel Gespür für Zwischentöne und gleichzeitig ein sensibles, ein eindringliches Porträt einer geschundenen und zerrissenen Gesellschaft.

Benjamin Lebert: „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“, S. Fischer, 20 EUR, ISBN: 9783103973129

hr-iNFO Büchercheck vom 09.03.2017

T.C. Boyle: „Die Terranauten“  
Acht Menschen zwei Jahre unter einer Glaskuppel. Das gab es tatsächlich.  Anfang der neunziger Jahre in Arizona. Dahinter stand die Frage: können Menschen in einer künstlichen Umwelt überleben. Das reale Projekt scheiterte. T.C. Boyle spinnt die Geschichte weiter.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Nein, es ist kein Wissenschaftsroman, den Boyle geschrieben hat. Es ist eher ein Gesellschaftsroman, fokussiert auf zwei besondere  Gruppen. Zum einen die acht Terranauten in ihren roten Anzügen. Zum anderen das Team draußen.  Die Terranauten  fühlen sich berufen, Wege der Menschheit in außerirdische Welten zu finden. Pioniere sozusagen, wenn nicht Helden, wie auch  Astronauten in ihren weißen Anzügen.  Allerdings gibt es einen feinen Unterschied. Die roten Anzüge sind nur die Galauniform. Am Ende sind sie eher jämmerliche, narzisstische Gestalten in zerschlissenen Klamotten. So empfindet es auch einer der Terranauten.

„Das war es, was in diesem grimmigen November des Jahres 2 aus uns geworden war, als alle zu wenig zu essen bekamen und einander auf die Nerven gingen. Wir waren schon zu lange miteinander eingesperrt und kannten einander zu gut, jede Eigenart und Geste, jede Phrase, jede Sprechgewohnheit, jede hundertmal gehörte Geschichte zerrte an unseren Nerven, bis das Prinzip der Kameradschaft nur noch ein schlechter Witz war.“

Dass das so ist, hat auch etwas mit den anderen zu tun, die draußen sind und das Projekt steuern. Auch sie sind nicht wirklich Wissenschaftler, sondern Marketing- und PR-Leute. Also solche, die Kohle machen wollen mit denen, die drinnen sind. Deswegen werden die, die drinnen sind von denen, die draußen sind, gesteuert. Sie müssen sich ähnlich wie im Big Brother Container ständig beobachten lassen, Interviews geben, ja sogar absurde Theaterstücke spielen. Das Pionierprojekt entpuppt sich als groteskes Heldenschauspiel, als brüchige Glamourwelt.

Wie ist es geschrieben?
Boyle erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive dreier Personen. Die beiden Liebenden drinnen unter der Glaskuppel, die Freundin der werdenden Mutter draußen. Letztere ist aber auch die neidische unterlegene Konkurrentin der Mutter. Sie durfte nicht rein und muss draußen Hilfsdienste leisten. Dieser ständige Perspektivwechsel ganz unterschiedlich motivierter Leute treibt die Geschichte voran und reichert sie mit einigen menschlichen Abgründen an.

Wie gefällt es?
Ich finde, Terranauten ist ein ordentlicher Unterhaltungsroman. Es gibt einiges zu grinsen. Mir fehlt aber die Tiefe. Die Figuren bleiben blass oder im Klischee, sie spielen Rollen und leben sie nicht. Überraschungen fehlen. Das passt nicht zum Setting des abgeschlossenen Ortes. Da müsste sich doch viel mehr Dynamik entwickeln. Für eine Satire auf die Eitelkeiten und den Kommerz eines Pseudo-Wissenschaftsbetriebs fehlt mir der Biss.

T.C. Boyle: „Die Terranauten“, Hanser Verlag, 26 EUR, ISBN: 9783446253865


hr-iNFO Büchercheck vom 02.03.2017

Peter Swanson: “Die Gerechte“
Ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel um Rache und Gerechtigkeit.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Ted ist auf dem Rückflug von London nach Boston, als sich eine junge Frau, Lily, zu ihm setzt. Sie kommen ins Gespräch, der  Alkohol lockert  die Zunge, Ted wird persönlich. Er erzählt, dass ihn seine Frau Miranda betrogen hat. Dass er sie am liebsten umbringen würde. Lily spinnt den Faden weiter, sie bietet ihm ihre Hilfe an, wenn er seine Frau und deren Liebhaber töten will. Und so planen die beiden den perfekten Mord. Nach dem Flug treffen sie sich noch ein paar Mal, verfeinern ihren Mordplan, doch Ted hat auch Skrupel. Soll er wirklich? Seine Frau töten? Da nimmt die Geschichte eine komplett neue Wendung…Und dann folgt eine Wendung nach der anderen. Äußerst spannend bis zum tatsächlich allerletzten Satz,  der noch einmal alles wieder umkehren könnte. Lily ist in der Geschichte die treibende Kraft, sie forciert die Mordplanungen. Und von ihr erfahren wir in  Rückblenden, dass sie kein Neuling in Sachen Mord ist: fast noch ein Kind, wurde sie von  einem Freund ihrer Mutter sexuell bedrängt, sie wusste sich nicht anders zu helfen, als den Mann zu töten. Lily, die Gerechte. Für die Mord Gerechtigkeit ist.

Wie ist es geschrieben?
Ein Psychothriller par exellence. Der Krimi „Die Gerechte“ von Peter Swanson ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt, was die Spannung antreibt. Und so stecken wir in den Köpfen von Lily, Ted und Miranda, lernen ihre Motive kennen und erfahren die Hintergründe ihres Handelns. Denn Täter sind sie alle irgendwie. Über weite Strecken ist das geschrieben wie ein Katz- und Maus-Spiel zwischen Lily und Miranda, beide zum Töten bereit, aber sie wissen nichts von den Plänen der jeweils anderen. Und mittendrin Ted:

„Zum ersten Mal, seit ich beschlossen hatte, meine Frau zu töten, wollte ich, dass es auf der Stelle geschah… Ich wollte Miranda tot sehen. Sie hatte unsere Liebe genommen und sie zu einer Farce gemacht. Sie hatte mich zum Gespött gemacht. Ich musste immer daran denken, wie Miranda mich früher angesehen hatte, wie sie mich noch heute manchmal ansah, als wäre ich der Mittelpunkt ihres Universums. Und dann hatte sie mir das Herz herausgerissen.“

Wie gefällt es?
Psychothriller sind normalerweise nicht meine bevorzugte Krimi-Gattung, aber „Die Gerechte“ von Peter Swanson hat mich restlos überzeugt. Das liegt zum einen an der Person Lily, die als Kind aus Not morden musste, aber das Töten auch später noch als Racheinstrument benutzt. Eine zum Teil gefühlskalte und hoch-rationale Frau, deren Handeln trotzdem nachvollziehbar ist. Und mit der man mitfiebert. Wirklich irre und extrem spannend sind aber die vielen Wendungen in diesem Krimi: läuft am Anfang alles auf den Mord an der Ehefrau und ihrem Liebhaber hinaus, dreht sich die Geschichte plötzlich, Täter und Opfer wechseln die Rollen, das mörderische Spiel beginnt von Neuem. Selten hat mich ein Psycho-Thriller so gefesselt wie dieser.

Peter Swanson: „Die Gerechte“ , Blanvalet-Verlag, 12,99 EUR, ISBN: 9783734103599

hr-iNFO Büchercheck vom 23.02.2017

Saphia Azzeddine: „Bilqiss“
Saphia Azzeddine ist eine französisch-marokkanische Autorin, sie schreibt ihre Bücher auf Französisch. In Deutschland wurde sie durch ihre Romane „Zorngebete“ und „Mein Vater ist Putzfrau“ bekannt. Zwei Romane, geschrieben in einer Mischung aus bitterem Ernst, Satire und Humor. Genau diese Mischung begegnet uns auch in ihrem neuen Roman „Bilqiss“.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Bilqiss ist der Name einer jungen Frau, die in einem muslimischen Terrorregime im Gefängnis sitzt. Sie soll gesteinigt werden, weil sie anstelle des volltrunkenen Muezzins aufs Minarett gestiegen ist und zum Morgengebet aufgerufen hat. Dass der Muezzin volltrunken war, was eine große Sünde ist im Islam, wird natürlich nicht bestraft. Und da haben wir auch schon das Hauptthema des Romans: die absolute Frauenverachtung in autoritären muslimischen Staaten. Bilqiss’ Gegenspieler ist ein Richter, der sie zum Tod verurteilen muss. Aber er ist von ihrer Selbstsicherheit, ihrem Mut, ihrem Scharfsinn und Witz, dazu von ihrer Schönheit so bezaubert, dass er sich in sie verliebt. Er besucht sie nachts im Gefängnis und die beiden diskutieren, streiten, argumentieren und reden endlos.

Wie ist es geschrieben?
Vehement und sehr pathetisch, wenn Bilqiss die verlogenen religiösen und gesellschaftlichen Strukturen anklagt. Es gibt aber auch märchenhafte Elemente, nicht nur durch dieses vage Irgendwo, in dem die Handlung spielt. Wie Scheherazad in „1001“ Nacht redet Bilqiss auch jede Nacht mit ihrem Peiniger. Allerdings kämpft sie nicht um ihr Leben, sondern um ihren Tod. Den will sie nämlich durchsetzen gegen den Wunsch des Richters, sie zu retten, weil er sie liebt. Und schließlich ist es auch eine bissig-brillante Satire auf jedes autoritäre Regime. Da werden die absurden Gesetze in maßlosen Übertreibungen karikierend aufgespießt. Das ist oft erschütternd, häufig lächerlich und manchmal auch unglaublich komisch.

„- Warum tragen Sie ihr Kopftuch nie, wie es sich gehört?
- Weil ich eine unverbesserliche Optimistin bin, Herr Richter. Und weil ich im Gegensatz zu denen, die es ordentlich tragen, nicht davon ablassen kann.
- Das verstehe ich nicht, wovon können Sie nicht ablassen?
- Ich habe noch Vertrauen in Sie, meine Herren. Dass es Ihnen eines Tages gelingen wird, uns als Ganzes zu betrachten, ohne davon eine Erektion zu bekommen. „

Wie gefällt es?
Im Zentrum des Romans steht die Sprache. Und die ist in ihrer Gebrochenheit sehr besonders. An das große, ernste Pathos müssen wir uns etwas gewöhnen. Hier steht der hohe Ton neben frechster Respektlosigkeit und bissigem Witz. „Bilqiss“ rüttelt unsere Lesegewohnheiten durcheinander. Wie viele junge französische Romane, deren Autoren aus den französisch-sprachigen Ländern Afrikas kommen. Sie bringen ganz viele neue Stoffe, Erzählweisen, Farben und Lebensgefühle mit in unsere europäische Literatur.

Saphia Azzeddine: „Bilqiss“, Wagenbach Verlag 2016, 20 EUR, ISBN: 9783803132819

hr-iNFO Büchercheck vom 16.02.2017

Julien Barnes:  „Der Lärm der Zeit“
Julien Barnes ist einer der erfolgreichsten und renommiertesten englischen Gegenwartsautoren. Zweimal hat der 1946 in Leicester geborene Schriftsteller schon den wichtigsten britischen Literaturpreis, den Booker-Preis gewonnen.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Julien Barnes neuster Roman ist ein Roman über Macht und Kunst. Im Zentrum des Romans steht Dimitri Schostakowitsch, einer der, wenn nicht der wichtigste russische Komponist im 20. Jahrhundert, und Barnes erzählt sein Geschichte anhand von drei entscheidenden Situationen.  Es beginnt im Jahr 1936, als der eigentlich gefeierte Komponist, sich mit einem kritischen, offenbar von Stalin autorisierten Prawda-Artikel konfrontiert sieht und von da an stündlich mit seiner Verhaftung und Schlimmerem rechnen muss. 12 Jahr später – 1948 – reist Schostakowitsch als Mitglied einer russischen Delegation in die USA und wird genötigt, sowohl seine eigene Musik wie auch die von bewunderten Kollegen öffentlich in den Schmutz zu ziehen, und wiederum 12 Jahre später, als er meint, Stalin glücklich überlebt zu haben, gelingt es dem Sowjetregime, ihm noch eine letzte Demütigung zu zufügen. Seine Musik, so muss Schostakowitsch ein ums andere Mal einsehen, ist machtlos gegen den Lärm der Zeit.

Wie ist es geschrieben?
Man muss kein Kenner der klassischen Musik sein, um von diesem Buch gepackt zu werden. Julien Barnes konzentriert sich auf das allgemein menschliche Drama, das er in Schostakowitschs Kampf mit Stalin und seinen Schatten erkennt. Das Faszinierende und auch Spannende an diesem gerade mal 240 Seiten kurzen Roman, ist die Kühnheit, mit der Barnes dieses Drama auf  drei einzelne Lebensmomente reduziert. Etwa wenn er im Jahr 1960 – konfrontiert mit seiner Ohnmacht und seinem Opportunismus zu dieser Schlussfolgerung kommt:

„Das war die letzte unwiderlegbare Ironie seines Lebens. Indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht. ... Seine Hoffnung war, der Tod werde seine Musik befreien: befreien von seinem Leben.“

Wie gefällt es?
Dieses Buch ist eine ergreifende Darstellung der Schwäche des Einzelnen in der Konfrontation mit der Macht. Aber diese Schwäche kann – je nachdem, womit die Macht droht, verschiedene Gesichter haben – und das arbeitet Julien Barnes sehr genau heraus. Er zeigt uns die Ängste Schostakowitschs, aber auch die Rechtfertigungsversuche ebenso wie die  Verzweiflung dieses Mannes, der schließlich erkennen muss, dass er seine Seele verkauft hat, um seine Musik zu retten. Julien Barnes urteilt nicht über dieses Mann, die Entscheidung, ob man sich auch anders hätte verhalten können, überlässt er jedem von uns – und genau das macht diesen Roman so allgemeingültig und so überzeugend. Julien Barnes ist einmal mehr ein Meisterwerk gelungen.

Julien Barnes:  „Der Lärm der Zeit“, Kiepenheuer und Witsch, 20 EUR, ISBN: 9783462048889

hr-iNFO Büchercheck vom 09.02.2017

Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben"
Selten gibt es für ein Buch schon Wochen vor dem Erscheinen so viel Aufmerksamkeit wie für diesen Roman. Dabei war die Autorin bislang noch gar keine Größe am literarischen Himmel. Aber in den USA wurde ihr Buch für einige Preise nominiert, stürmte die Verkaufslisten und war auch medial Thema. Hält das Buch, was der Wirbel verspricht?

Von Frank Statzner

Ich sag's gleich zu Beginn: Einerseits ist dieser fast 1000 Seiten Roman ein fesselndes Lesevergnügen. Wer gerne mitleidet - hier darf er es. Und andererseits, obwohl es viel Kluges über das Leben zu lesen gibt, mangelt es ihm an Realität.

Worum geht es?
"Ein wenig Leben" beginnt als Roman über die Freundschaft von vier College-Jungen in New York: Willem, der Farmersohn aus der Provinz, der Schauspieler wird. JB, der Künstler wird. Malcolm, aus begütertem Elternhaus, wird Architekt. Und Jude, der Begabteste von ihnen: musikalisch, ein Mathegenie, ein erfolgreicher Jurist. Wir verfolgen ihre Freundschaft und ihre Entwicklung über einige Jahrzehnte hinweg. Freundschaft, Liebe, Vertrauen – das sind einige Themen. Aber auch deren dunkle Seite. Im Mittelpunkt steht Jude, um ihn dreht sich alles. Jude trägt Geheimnisse mit sich. Er hinkt, leidet an Schmerzattacken, er ritzt sich obsessiv, so dass an Armen und Beinen keine heile Stelle mehr ist. Warum tut er das? Wie gehen die Freunde damit um? Seite für Seite bekommt man davon eine Vorstellung. Zunächst erste hingeworfene Bemerkungen der Erzählerstimme, dann Wahrnehmungen der Freunde, schließlich Erinnerungen Judes. So entsteht langsam ein Bild, ein schockierendes Bild. Jude ist ein ausgesetztes Kind und wuchs in einem Kloster auf. Er wurde Opfer von Gewalt, Missbrauch und sexueller Ausbeutung. Ein zutiefst verletzter Mensch, der seine Traumata nicht überwinden kann, sich gegen sein eigenes Leben wendet und nicht davon reden will. Und seine Freunde? Sie fragen ihn nicht. Aus Respekt und aus Liebe, meinen sie. Und können ihm dadurch nicht wirklich helfen.

"Sein Schweigen war sowohl Notwendigkeit als auch Schutz und hatte den zusätzlichen Vorteil, ihn mysteriöser und interessanter wirken zu lassen, als er es in wahrheit war. "Wie ist das bei Dir gewesen, Jude?", war er zu Beginn des SEmesters manchmal gefragt worden, doch da war er bereits klug genig gewesen - erlernte schnell -, lediglich mit den Schultern zu zucken und lächelnd zu sagen: "Zu langweilig, um davon zu erzählen." Er war erstaunt, aber auch erleichtert darüber, wie bereitwillig sie das akzeptieren, und dankbar für ihre Ichbezogenheit. Keiner von ihnen interessierte sich für die Geschichten der anderen; jeder wollte nur seine eigene erzählen."

Wie ist es geschrieben?
Alles dreht sich um die zentrale Figur Jude in diesem Roman. In seinen Erinnerungen, in Rückblenden wird Ungeheuerliches erzählt. Aber eigentlich hat dieser Roman keine Handlung. Es fehlt auch die konkrete zeithistorische Einbettung. Weil die Erzählerstimme die Erlebnisse der Figuren zu unterschiedlichsten Zeiten und an verschiedenen Orten ständig montiert und irgendwann zwischendurch auch noch ein Ich-Erzähler auftaucht, werden sogar Raum und Zeit aufgehoben. Der Text dreht sich also nicht nur inhaltlich um Jude, sondern auch strukturell. In der Wirkung entsteht beim Lesen ein Sog. Man bleibt an diesen tausend Seiten dran: Tage, vielleicht sogar Wochen. Man will wissen, wie geht das in der nächsten Schleife weiter?

Wie gefällt es?
Dieser Sog ist natürlich eine grandiose Wirkung. Aber: Ab und zu gibt es auch Längen, Wiederholungen. Ich finde, es hätten nicht unbedingt tausend Seiten sein müssen. Manchmal gibt es auch Klischees oder kitschige Bilder. Die Guten sind gut, die Bösen böse. Die eigentliche Schwäche des Romans ist aber, dass er nicht ganz logisch ist. Warum sprechen die Freunde Jude nicht nachhaltig auf sein Leiden an? Warum akzeptieren sie über Jahrzehnte sein Schweigen und sein Verstellen? Das ist einfach nicht realistisch. Und damit steht die auf Wirkung getrimmte Geschichte, so toll sie in vielen Details zu lesen ist, als Konstruktion letztlich auf wackligen Füßen. Es sei denn, man liest sie als Märchen.

Hanya Yanagihara: "Ein wenig Leben", Hanser Berlin, 28 Euro, 960 Seiten, ISBN: 978-3446254718

hr-iNFO Büchercheck vom 02.02.2017

Thomas Melle: "Die Welt im Rücken"
Thomas Melle gewährt uns in seinem Roman "Die Welt im Rücken" tiefe Einblicke in sein Seelenleben. Keine leichte Kost, denn der Autor ist manisch-depressiv. Er nimmt uns mit in eine Welt, in der Normalität zur prekären Fiktion wird.

hr-iNFO-Bücherchecker Alf Mentzer hat das Buch für uns gelesen.

Worum geht es?
Dieses Buch ist kein Roman, es ist keine Fiktion. Thomas Melle schreibt ausschließlich über sich selbst, aber gerade dieses "Selbst" ist sein größtes Problem. Thomas Melle ist manisch-depressiv, er leidet unter einer bipolaren Störung und das bedeutet, dass sein Selbst in mindestens drei Phasen zerfällt: Da ist der Maniker, der von grenzenloser Energie angetrieben wird, dessen Neuronen gnadenlos feuern, der Wahnvorstellungen hat, Freunde beleidigt, Schulden macht und seine Zukunft verspielt. Da ist der depressive Thomas Melle, der ins andere Extrem fällt, und mehrere Selbstmordversuche unternimmt, und da ist der Autor dieses Buches, Thomas Melle, der nach drei, immer verheerender werdenden Schüben dieser Krankheit herausfinden will, herausfinden muss, wer er überhaupt ist, wie diese Extremausschläge seiner Persönlichkeit mit ihm zusammenhängen, und wie er damit leben, arbeiten und sich der Zukunft stellen kann – immer von der Gewissheit bedroht, dass der nächste Schub diese Zukunft vollständig zerstören wird.

Wie ist es geschrieben?
Thomas Melle schreibt so, wie es seine Krankheit diktiert: in Extremen. Den ruhigen, sich kaum von der Stelle bewegenden Passagen über seine Depressionen stehen die hyperaktiven Phasen des Manikers gegenüber. Das ist eine Achterbahnfahrt, auf die Thomas Melle auch uns Leser mitnimmt. Das kann quälend sein, das kann atemberaubend sein, das ist mitunter sogar wahnsinnig komisch, wenn etwa der Maniker alles, aber auch alles auf sich bezieht: das diabolische Lächeln Wolfgang Schäubles auf dem Bildschirm, oder Sexgeständnisse von Madonna und Björk.

Aber Thomas Melle erliegt nie der Versuchung, sich über sich selbst lustig zu machen. Er versucht nicht, sein Leiden ironisch zu entschärfen. Dafür ist es ihm zu ernst, dafür geht sein Leiden an den Kern seiner Existenz, und die beeindruckendsten Passagen in diesen Buch sind diejenigen, in denen er sich vollkommen ganz direkt der zerstörerischen Kraft dieser Krankheit stellt. Passagen, aus denen klar wird, dass es hier nicht nur um Literatur, sondern um das Ganze einer gefährdeten Existenz geht:

"Die bipolare Störung hat sich zwischen mich und alles gestellt, was ich sein wollte. Sie hat das Leben verunmöglicht, das ich leben wollte. Sie hat die Bücher durchgeschüttelt, die ich schrieb. Und wenn sich jetzt einer vielleicht fragt, wieso der Typ so narzisstisch viel von seinen Texten labert, dann ist die Antwort: weil die Texte inzwischen mein Leben sind. Sonst habe ich nämlich kaum eines. Vielleicht bessert sich das irgendwann, vielleicht nicht."

Wie es gefällt?
Dieses Buch ist nicht leicht zu ertragen, aber wie sollte es das auch sein? In seinen manischen Phasen kann dieser Thomas Melle unendlich nerven, in seiner Depressionen kann er einem unendlich leidtun, aber nie und an keiner Stelle hatte ich das Gefühl, dass dieses Buch unehrlich sei. Hier inszeniert sich niemand. Hier nimmt mich ein Autor mit in die tiefsten Abgründe seiner gefährdeten Existenz. Ich habe dabei viel darüber erfahren, wie leicht ein Leben aus der Bahn geraten kann und wie mühsam der Versuch ist, wieder in die Spur zu kommen. Normalität, das ist mir beim Lesen klar geworden, ist eine äußert prekäre Fiktion. Schwer zu ertragen, aber gerade deshalb so lesenswert.

Thomas Melle: "Die Welt im Rücken", Rowohlt Verlag, 348 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3871341700


hr-iNFO Büchercheck vom 26.01.2017

Iain Levison: „Gedankenjäger“
„Gedankenjäger“ heißt der Kriminalroman von Iain Levison, und im Mittelpunkt steht ein kleiner, ehrlicher Polizist, der eines Tages merkt, dass er die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Daraus entwickelt sich eine spannende Geschichte um einen gescheiterten neuro-wissenschaftlichen Versuch.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Am Anfang ist Streifenpolizist Jared Snowe ordentlich verwirrt, als er plötzlich die Gedanken anderer Menschen lesen kann. In seinem Beruf bringt ihm das enorme Vorteile. Da erhält er von höchster Regierungsstelle den Auftrag, einen geflohenen Polizistenmörder wiederzufinden und zurück in die Todeszelle zu bringen. Was er nicht weiß: auch dieser Mann, Brooks Denny, ist ein Gedankenleser. Snowe braucht kaum einen halben Tag, um den Mann zu finden. Der Jäger und der Gejagte, beide stehen sich schussbereit gegenüber, doch Polizist Snowe lässt sich von Polizistenmörder Denny überreden, ihn nicht zu verhaften. Denn Denny ist überzeugt, dass sie beide gejagt und umgebracht werden sollen:

„Und dann setzen die dich auf mich an. Warum? Weil sie hoffen, wir werden einander umbringen. Wenn du mich tötest, kann man dich dann später immer noch erledigen. Wenn ich dich töte, ist das auch in Ordnung, weil sie dann herausbekommen, wo ich bin. In jeden Fall sind sie ihrem Ziel um einiges näher, uns beide auszulöschen!“ Snowe schüttelte den Kopf, aber Danny war nicht fertig. Die wollen bloß, dass ich dich für sie erledige, damit die sich nicht mehr darum kümmern müssen.“ Denny lächelte. „Du weißt, dass ich recht habe. Du weißt, dass ich dich deshalb nicht erledigt habe, als ich die Gelegenheit dazu hatte.“

Sie fliehen zusammen und versuchen herauszubekommen, warum sie Gedanken lesen können, welche gemeinsame Vergangenheit sie haben. Dabei  werden sie von dieser ominösen, nicht näher bezeichneten Regierungsstelle verfolgt. Nach und nach kommen Snowe und Denny dahinter, dass sie ein wichtiges Militärgeheimnis um einen misslungenen neuro-wissenschaftlichen Versuch aufdecken könnten…

Wie ist es geschrieben?
Gedankenjäger ist ein starkes Buch, ein guter Krimi. Nachvollziehbar beschreibt Iain Levison den Alltag eines Gedankenlesers, der überschwemmt wird mit all den wichtigen, vor allem aber auch unwichtigen Gedanken, die die Menschen so im Kopf haben. Allein diese Idee ist wunderbar verschroben – und die Einbettung in eine Militärgeschichte um Gehirnmanipulationen phantasievoll wie plausibel. Ein kleiner, feiner Kriminalroman auf hohem Niveau.

Wie gefällt es?
„Gedankenjäger“ von Iain Levison ist kein Thriller, der einen umhaut, bei dem man Fingernägel kaut vor Spannung. Dafür aber hatte ich viel Spaß beim Lesen, der subtile Humor hat mir gefallen, die warmherzige Personenzeichnung und das Geheimnis um diese Regierungsstelle, die den Lauf dieser Geschichte diktiert. Ein Krimi, der gut und angenehm spannend unterhält.

Iain Levison: Gedankenjäger, Deuticke-Verlag, 19 EUR, ISBN: 9783552063280

hr-iNFO Büchercheck vom 19.01.2017

Lauren Groff: „Licht und Zorn“
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein: der in Reichtum hinein geborene Lotto, Schwarm aller Mädchen und Sunnyboy. Und Mathilde, lieblos aufgewachsen, reizvoll aber einsam und beziehungsgestört, vom Leben vernachlässigt. Auf einer Party erblicken sie sich. Und es funkt, sofort. Sie begehren sich, sie lieben sich, sie brauchen sich.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Nach kurzer Zeit heiraten die beiden, gegen den Willen von Lottos Mutter. Sie bestraft ihn für die unerwünschte Hochzeit mit Geldentzug und Abwesenheit. Dafür entwickelt sich die Ehe mit Mathilde zur Symbiose. Sie wird zur Ernährerin, als Lotto als Schauspieler scheitert. Sie unterstützt ihn, als er anfängt Theaterstücke zu schreiben und ein Star wird. Er ist der bewunderte Autor, sie die immer lächelnde Ehefrau, die ihm die praktischen Aufgaben des Lebens abnimmt und seine Eskapaden und Verletzungen mit einem Lächeln erträgt. Ein Narziss und sein Engel, so scheint es. Aber von Anfang an gibt es ganz feine Risse in diesem Glamourbild. Schon am Tag ihrer Hochzeit. Nach einem intensiven Liebesspiel am Strand redet Lotto im Überschwang seiner Gefühle von ihr, als sei sie sein Besitz. Mathilde protestiert.

„Gewissheit, meint Lotto. Aber es fehlt ihm die Empathie, die Doppelbödigkeit hinter Mathildes Lächeln zu erkennen. Erst kurz vor seinem Tod mit 46 Jahren kommen ihm Zweifel. Was Lotto nicht mehr erfährt, der Leser bekommt es im zweiten Teil des Buchs geliefert. Eine Dekonstruktion von Mathilde und dieser Ehe, in der von Anfang an nichts so war wie es schien. Eine Ehe, in der sich zwei ganz unterschiedliche Menschen gaben, was sie jeweils brauchten und sich alleine nicht geben konnten. So kann Ehe funktionieren.“

Wie ist es geschrieben?
Licht und Zorn – das sind die beiden Teile des Buchs. Licht ist aus der Perspektive Lottos geschrieben, Zorn aus der Perspektive Mathildes. Hin und wieder schaltet sich in eckigen Klammern noch eine allwissende Erzählerfigur ein, die die Darstellung des jeweiligen Protagonisten konterkariert. Für uns Leser sind das subversive Hinweise, dass Schein und Sein in dieser Story weit auseinanderklaffen können. Der erste Teil lullt ein wenig ein und streut sanfte Zweifel, der zweite Teil stellt den ersten auf den Kopf, das Erzähltempo steigt, aus der Story vom Eheglück wird ein Psychodrama, aus dem Eheroman ein Enthüllungsroman. Totschlag, Betrug, Manipulationen, Rachsucht treten zutage, aber auch tiefgreifende Traumata.  

Wie gefällt es?
Ich finde, Licht und Zorn ist ein interessantes, unterhaltendes, ja spannendes Buch. Nicht über alle 430 Seiten hinweg. Der erste Teil ist mir zu lang. Es passiert zu wenig. Der zweite Teil zieht deutlich an. Da wird geradezu ein Enthüllungsfeuerwerk gezündet. Das hat mich gefesselt. Besonders interessant ist, dass Schein und Sein mehrfach gebrochen werden, dass sich überraschend immer wieder Neues auftut und sich so vermeintliche Gewissheiten auflösen. Licht und Zorn ist eben viel mehr als ein Eheroman.

Lauren Groff: Licht und Zorn, Hanser-Berlin Verlag, 24 EUR, ISBN: 9783446253162

hr-iNFO Büchercheck vom 12.01.2017

Harry Parker: „Anatomie eines Soldaten“
Was würde eine Patrone sagen, kurz bevor sie abgeschossen wird? Oder die Turnschuhe eines Taliban im Kriegsgebiet? Was würde eine Knochensäge erzählen, während sie einem Mann den Oberschenkelknochen durchtrennt? – damit er überlebt. Das erzählen uns in Harry Parkers Debüt-Roman die Gegenstände selbst.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Harry Parker hat als britischer Soldat durch eine Sprengfalle beide Beine verloren. Wie das passierte – und wie er sich nach dieser verheerenden Verwundung mühsam wieder zurück ins Leben gekämpft hat, davon handelt sein Debüt-Roman. Sein alter ego im Roman heißt Tom Barnes, oder im Einsatz: BA5799. Seine Geschichte erzählen zum Beispiel seine Stiefel, die er noch zu Hause anzieht, bevor er ins Kriegsgebiet fliegt. Ein anderes Kapitel erzählt das grüne Fahrrad eines Jungen, der versehentlich bei einem Drohnen-Angriff von Tomas Armee getötet wird. Die Plastik-Uhr am Handgelenk eines Aufständischen berichtet, wie dieser Sprengfallen baut und im gesamten Gebiet in der Erde versteckt. Objekt für Objekt ergibt sich eine größere Erzählung; in 45 Kapiteln, locker neben einander gestellt – große Zeitsprünge inklusive. Ihr Zentrum aber ist der Schlüsselmoment im Leben des Soldaten: als unter seinen Füßen die Sprengfalle explodiert.

Wie ist es geschrieben?
Die Übersetzung aus dem Englischen liest sich manchmal etwas ungelenk – das ist schade. Doch trotz aller Schönheitsfehler hat mich die Erzählung berührt und einen bleibenden Eindruck hinterlassen. - „Anatomie eines Soldaten“ ist ein expliziter Anti-Kriegsroman, der aufwühlt; der umso erschreckender wirkt, weil die Gegenstände völlig sachlich, bis ins kleinste Detail berichten. Vom unmenschlichen Horror, von der kühlen, präzise arbeitenden Mechanik des Krieges. Von seiner Sinnlosigkeit und Banalität, in der alles und jeder zum Objekt wird.
Durch den Unfall wird aus BA5799 wieder Tom Barnes. Doch vor ihm liegt ein langer Weg: Viele Operationen, Selbstmordgedanken, schmerzhafte Reha. Aber am Ende steht ein Lichtblick.

„Du sahst auf uns herunter. Wir stellten deine Proportionen wieder richtig, und du lächeltest. Wir bestanden aus Metall und einer Ansammlung von Schrauben, Kohlefaserröhren, Plastik und Gummi. Wir füllten den alten Platz von Muskeln und Fleisch nicht aus, dazu waren wir zu dünn und kantig, aber da, an meinem Ende, gab es auf einmal wieder einen Schuh.“

Wie gefällt es?
Der Roman hat eine große Wucht! Vor allem weil er eine wahre Geschichte erzählt. Ich war noch nie für Krieg. Aber ich bin jetzt noch mehr dagegen – weil mir Harry Parker das, was Krieg im Detail und im großen Ganzen bedeutet, nachvollziehbar und richtig spürbar gemacht hat.
Dass ein Mensch – durch diesen ganzen Horror hindurch – doch wieder ins Leben zurückfindet – das hat mich tief beeindruckt! Dass Harry Parker das auch noch auf eine so ungewöhnliche Weise erzählt, macht den Roman doppelt lesenswert.

Harry Parker: Anatomie eines Soldaten, Benevento Verlag, 24 EUR, ISBN: 9783710900020

hr-iNFO Büchercheck vom 05.01.2017    

Jane Harper: “The Dry”
In dieser kühlen/kalten Jahreszeit führt uns das Krimi-Debüt  „The Dry“ der Autorin Jane Harper in die unerträgliche Hitze einer australischen Kleinstadt, in der es seit Monaten nicht mehr geregnet hat, die Bauern verzweifeln und die Nerven aller zum Zerreißen gespannt sind.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Steuerfahnder Aaron Falk  kehrt in sein Heimatdorf zurück, ein trauriger Anlass: sein früherer Schulfreund Luke Hadler ist tot, seine Frau und sein Sohn erschossen. Augenscheinlich war Hadler der Täter – erweiterter Selbstmord, wegen der anhaltenden Dürre und der Aussichtslosigkeit, das Leben als Farmer weiterführen zu können. Doch Hadlers Vater hat Zweifel, er bittet Falk, die Hintergründe herauszufinden, und gemeinsam mit dem örtlichen Sergeant Raco macht sich Falk auf die Suche nach der Wahrheit. In dem Dorf schlagen ihm allerdings Skepsis und zunehmend offene Feindschaft entgegen: denn Falk war als Jugendlicher in Verdacht geraten, am Tod seiner Klassenkameradin Ellie Schuld zu sein, mit seinem Vater musste er schließlich den Ort verlassen. Und die alten Geschichten wirken noch, die Verquickungen und Feindschaften zwischen den Bewohnern lassen die aggressive Stimmung parallel zur Hitze im Dorf eskalieren.

Wie ist es geschrieben?
Jane Harper beschreibt mit einer mächtigen Bildsprache atmosphärisch dicht die Lage in einem Dorf, in dem jeder jedem misstraut, in dem alle Geheimnisse haben, keiner mit der Wahrheit herausrückt. Man spürt förmlich die Hitze auf der Haut, den trockenen Mund, die rohe Wut der einen und die verzweifelte Hilflosigkeit der anderen.

„Das einzige Geräusch im Raum war das Summen der Neonröhren, während Dow lange auf den Beleg starrte. Dann schlug er plötzlich ohne Vorwarnung klatschend mit der flachen Hand auf den Tisch. Falk und Raco zuckten zusammen.„Das hängt ihr mir nicht an!“ Ein feiner Sprühnebel Speichel flog aus Dows Mund auf die Tischplatte. „Was hängen wir Ihnen nicht an, Grant?“ Racos Stimme war betont neutral. „Diese verdammte Familie. Wenn Luke plötzlich auf die Idee kommt, seine Frau und sein Kind abzuknallen, ist das seine Sache.“ Er zeigte mit einem dicken Finger auf die Ermittler. „Aber das hat einen Scheißdreck mit mir zu tun, verstanden?“ Dow starrte Falk an und schüttelte den Kopf. Sein Hemdkragen war schweißgetränkt. „Mann, du kannst mich mal. Mit Ellie hast du schon genug Schaden angerichtet. Mich und meinen Onkel machst du nicht auch noch fertig. Das ist eine Hexenjagd.“

Wie gefällt es?
„The Dry“ von Jane Harper ist ein nahezu perfekter Krimi, ein ungemein spannendes Buch, das ich, auch wenn es wie ein Klischee klingt, irgendwann tatsächlich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Gegen Ende gibt es auf fast jeder Seite neue Indizien, in immer schnellerer Taktzahl wird dazu in die Vergangenheit zurückgeblendet, die Spannung steigt.  „The Dry“ von Jane Harper ist ein atemraubender Thriller mit einem fast explodierenden Ende – und das ist wortwörtlich gemeint. Unbedingt lesen!

Jane Harper: The Dry, Rowohlt Polaris, 14,99 EUR, ISBN: 9783499290268

Zurück zum Seiteninhalt