Die wöchentlichen Bücherchecks - 2016 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

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hr-iNFO Bücherchecks in 2016:  

hr-iNFO Büchercheck vom 29.12.2016

Dirk Stermann: „Der Junge bekommt das Gute zuletzt“

Der Autor Dirk Stermann ist Deutscher, lebt aber seit rund 30 Jahren in Österreich. Dort ist er aus dem Fernsehen als Moderator und Kabarettist bekannt. Aber er schreibt auch Romane. In seinem jüngsten beweist er, dass Wortwitz und Traurigkeit bestens zusammen passen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der 13jährige Claude lebt mit seiner Mutter, eine Ethnologin, seinem Vater, einem Posaunisten, und seinem jüngeren Bruder in einer großen Wohnung in Wien. Die Mutter verliebt sich in einen peruanischen Straßenmusiker und will sich in dieser Liebe selbst verwirklichen. Die Wohnung wird mit einer Wand geteilt. Auf der einen Seite wohnen Claude und sein Vater, auf der anderen die Mutter mit dem Bruder und ihrem Peruaner. Der Vater verliebt sich in eine Musikstudentin. Claude bleibt mehr und mehr sich selbst überlassen. Er hat nur noch Minako, seine Freundin und Dirko, einen kroatischen Taxifahrer und Lebenskünstler, der an MS erkrankt ist. Der fährt ihn nicht nur täglich zur Schule, sondern bringt Claude auch so manche Lebensweisheit bei.

„Das Leben halte Überraschungen bereit, wenn auch vielleicht ausschließlich furchtbare. Vielleicht ausschließlich unpackbar furchtbare. Aber vielleicht wird es dem Leben irgendwann fad, nur zuzuschlagen, und plötzlich dreht sich ein Lüftchen und wird zu einem Wind, der dir von hinten den Rücken stärkt. Ich will, dass Dirko recht hat. Aber dem Leben scheint bisher nicht fad zu werden.“

So ist es leider. Das Leben wird für Claude stetig schlechter. Die Mutter will nichts mehr von ihm wissen. Sie haut ab nach Peru und nimmt den Bruder mit. Der Vater zieht mit seiner Freundin, mit der er ein Kind bekommt, nach Linz. Claude allein zu Haus. Ob das Gute zuletzt doch noch kommt, lasse ich hier mal offen.

Wie ist es geschrieben?
Dirk Stermann erzählt eine schlimme, ja furchtbare Geschichte. Kapitel für Kapitel wird sie schlimmer. Die Überschriften der Kapitel geben in Zahlen die Stärke des Schmerzes an, wie auf einer Skala. Man könnte an diesem traurigen Leben verzweifeln. Aber Stermann setzt dem Plot auch positive und lustige Begebenheiten entgegen und eine Sprache, die Farbe ins Grau bringt. Originelle Wortschöpfungen gehören dazu, Sprachwitz und Bilder, die das Schöne im Leben beschreiben. Irgendwo am Horizont blitzt sie dann doch durch, die Sonne.

Wie gefällt es?
Zugegeben, diese Geschichte ist schon sehr bizarr und auch abenteuerlich. Es wird so etwas in unserer westeuropäischen Realität vermutlich nur ganz, ganz selten geben. Aber ich habe sie gerne gelesen. Mit passte dieser Roman gut in die gefühlsduselige Weihnachtszeit. Er ist so etwas wie ein Kontrapunkt. Der Wechsel zwischen Traurigem und Lustigem funktioniert. Wenn man nicht gerade depressionsgefährdet ist, ist dieses Buch vielleicht sogar eine gute Starthilfe ins neue Jahr. Es macht Hoffnung, dass nach dem Schlimmsten vielleicht doch wieder etwas Gutes kommt.

Dirk Stermann: Der Junge bekommt das Gute zuletzt, Rowohlt, 19,95 EUR,
ISBN: 9783498064389

hr-iNFO Büchercheck Jugendbuch vom 22.12.2016

Todd Hasak-Lowy: „Das ich ich bin, ist genau so verrückt wie die Tatsache, dass du du bist“

Der Titel ist lang. Und klingt kompliziert. „Dass ich ich bin, ist genau so verrückt wie die Tatsache, dass du du bist“, heißt er. Ein Roman in Listen.

hr-iNFO Büchercheckerin Corinna Tertel hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Um einen amerikanischen Teenager, den 15 jährigen Darren Jacobs. Darrens Leben ist gerade alles andere als einfach. Seine Eltern haben sich getrennt, sein großer Bruder ist zum Studieren ausgezogen, und jetzt eröffnet ihm sein Dad eines Morgens, dass er schwul ist. Sein Dad schwul? Das wirft Darren aus dem Konzept. Falls er denn überhaupt ein Konzept hat. Denn unter allen Problemen in Darrens Leben brodeln ja noch gewisse Teenager-Fragen auf dem Weg dazu, sich selbst zu finden. Bei einem eher zurückhaltenden Schüler wie Darren erst recht. Eine Liste im ersten Kapitel beschreibt ihn so:

„13 Adjektive, mit denen Darrens Klassenkameraden ihn beschreiben würden (das könnte er sich jedenfalls gut vorstellen):
1. pummelig,
2. nett,
3. tollpatschig,
4. nicht doof,
5. vegetarisch drauf,
6. seltsam,
7. still,
8. langsam,
9. langweilig,
10. lockig,
11. irgendwie ganz niedlich,
12. unbedeutend,
13. was auch immer.“

Und dann ist da auch noch Zoey. Dieses rätselhafte Mädchen, das Darren fasziniert, und das aber plötzlich abtaucht.

„4 Dinge, mit denen der überquellende Berg von Tempotaschentüchern im Papierkorb neben seinem Bett eine gewisse Ähnlichkeit hat:
1. eine Wolke, in der Kumulus-Form
2. eine schneebedeckte Gebirgskette
3. ein menschliches Gehirn, mit dem etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.
4. Blumenkohl, eventuell“

Wie ist es geschrieben?
Der Sog der Listen, die Spannung, die sie erzeugen und die unverblümte und altersgerechte Sprache dürfte selbst Lesemuffel packen, die ihre Zeit sonst lieber vor Computerbildschirmen verbringen. Zumal diese Listen die immerhin 650 Seiten sehr luftig gestalten – sowohl inhaltlich als auch optisch. Ein origineller, ansprechender und mitreißender Jugendroman, geschrieben von Todd Hasak-Lowy, einem amerikanischen Autor, der am Arts Institute in Chicago Kreatives Schreiben unterrichtet. Absolut lesenswert und beziehungsweise schenkenswert. Besonders für Teenager ab 14 oder 15 Jahren.

Todd Hasak-Lowy: Das ich ich bin, ist genau so verrückt wie die Tatsache, dass du du bist,
Beltz & Gelberg, 18,95 EUR, ISBN: 9783407821713

hr-iNFO Büchercheck vom 15.12.2016

Nele Pollatschek: „Das Unglück anderer Leute“

Nele Pollatschek ist gerade mal 28 Jahre alt. Geboren in Ost-Berlin, aufgewachsen in Frankfurt am Main und zum Studium nach Cambridge und Oxford gegangen, hat sie jetzt ihren ersten Roman veröffentlicht. „Das Unglück anderer Leute“, so der vielversprechende Titel.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
In Zentrum dieses Romans steht die skandalöse Ungerechtigkeit, dass man sich ausgerechnet die Menschen, die einen am stärksten beeinflussen, nicht frei aussuchen kann. Gemeint ist damit natürlich die eigene Familie – und Thene, die 25-jährige Hauptfigur in Nele Pollatscheks Anti-Familienroman, hat in dieser Beziehung auch wirklich einiges zu erdulden: Ihr Vater hat vor Jahren seine die Familie wegen seiner neu entdeckten Homosexualität verlassen; der Großvater hält sich für den unehelichen Sohn der englischen Königsfamilie, die Großmutter ist eine Furie, der es dann am besten geht, wenn sie sich aufregen kann. Und als ob eine solche Familienkonstellation nicht schon Unglück genug wäre, ereignet sich eine Katastrophe nach der nächsten.

Wie ist es geschrieben?
Nele Pollatschek erzählt mit Tempo und viel Sinn für Ironie und Situationskomik. Eine absurde Situation folgt auf die nächste, zusammengehalten von dem lakonischen Verzweiflungston ihrer überforderten Hauptfigur. Das macht Spaß, zu lesen, wird nie langweilig und nimmt immer wieder neu Fahrt auf – vor allem dann, wenn Nele Pollatschek vollkommen überdrehte Vergleiche in Anschlag bringt, wie zum Beispiel die hier:

„Oma war für Diplomatie etwas so geeignet wie ein Flammenwerfer zum Kerzenanzünden. Am Ende brannte meist das ganze Haus. Und Entschuldigungen waren Oma so vertraut wie dem Ministerium für Staatssicherheit das Recht auf Privatsphäre – ein Problem der anderen.“

Manchmal wird das ein bisschen viel, manchmal wirkt es ein wenig forciert; aber dann muss man sich nur vergegenwärtigen, dass hier eine Erzählerin am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt – und dann stimmt wieder.

Wie gefällt es?
„Das Unglück anderer Leute“ ist ein erstaunliches Debüt; frech, voller abgedrehter Ideen und Überraschungen, die sich so mancher gestandener Autor gar nicht getraut hätte – dass sich da Ganze dabei nicht im Klamauk zu verlieren, dafür sorgen die Figuren die bei all ihrer Schrulligkeit interessant und mitunter sogar liebenswert wirken, dafür sorgt aber auch die ganz und gar ernste Frage, ob und wie man sein Schicksal bei aller Vorbestimmtheit doch noch in die eigene Hand nehmen kann. Ein lesenswerter Roman, der mindestens so viel Spaß macht, wie er zu denken gibt.

Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute, Galiani, 18,99 EUR, ISBN: 9783869711379

hr-iNFO Büchercheck vom 08.12.2016

Ian McEwan: „Nussschale“
Ein Fötus, wenige Tage vor seiner Geburt, erzählt uns, wie sich ihm die Welt darstellt. Eine Welt, die er sehr gut kennt aus zahlreichen Podcasts, die seine Mutter hört. Und was er sich in intelligenten Assoziationen und mit gehöriger Phantasie erschließt. Es ist im Großen eine Welt in Krisen und im Kleinen die Welt eines Mordkomplotts der Mutter und des Onkels gegen seinen Vater. (Willkommen im Leben.)

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Fötus hört alles, weiß alles, kann seinen Vater aber nicht retten. Er sinniert über Rache, er fürchtet im Gefängnis oder bei Pflegeeltern in prekären Verhältnissen auf zu wachsen. Und am Ende findet er sogar einen Weg, die Flucht der beiden vor der Polizei zu sabotieren: er zerreißt die Fruchtblase und kommt einfach auf die Welt. So nimmt man sein Schicksal in die Hand.

„Ein glitschiger Moment, ein wachsweiches, ächzendes Ploppen, und da bin ich, nackt in meinem Königreich. Ich blicke nach unten und schaue voll Staunen und Vorfreude auf die rauhe Oberfläche eines blauen Badehandtuchs. Blau. Die Farbe habe ich schon immer gekannt, zumindest das Wort dafür, und schon immer habe ich ableiten können, was blau ist – Meer, Himmel, Lapislazuli, Enzian – bloße Abstraktionen. Jetzt aber ist die Farbe endlich mein, sie gehört mir, so wie ich ihr gehöre.“

Sein oder Nichtsein – der Hamlet Plot Shakespeares lässt grüßen und stand hier Pate.

Wie ist es geschrieben?
Ein Fötus als Ich Erzähler – ganz schön gewagt diese Konstruktion. Aber McEwan ist ein äußerst versierter und kunstfertiger Autor mit einer unbändigen Lust am Fabulieren. Der lässt er hier freien Lauf, denn seine Konstruktion ist geradezu ein Nährboden für Phantasie und Witz. Ein Ungeborener, der mit hoher Kenntnis den Wein analysiert, den die Mutter in sich rein kippt, der mit analytischer Sicherheit die politischen Krisen der Welt und die jüngsten Erscheinungen unseres Zusammenlebens reflektiert und sich dann auch noch zu philosophischen Erörterungen des Themas Rache und Sinn steigert – das darf man nicht auf die Waage der Logik legen. Aber man darf solche Einfälle genießen. Zumal dann, wenn sie wie hier in einem ironischen bis süffisanten Ton daherkommen, in einer reichen und ausgesprochen eleganten Sprache.

Wie gefällt es?
Eine Geschichte mit shakespeareschem Format: die Story bizarr, gewalttätig und eigentlich kaum glaubhaft. Die Hamlet Mord- und Rachegeschichte katapultiert ins Brexit-Land. Die Form gewagt und von geradezu artistischer Kunstfertigkeit.  Man kann dieses Buch als McEwans Beitrag zum Shakespeare-Jahr verstehen, zum 400. Todestag. Für uns Leser ist es allemal ein Gewinn. Spannend, witzig, virtuos. Ich meine: Große Unterhaltung, hier und da mit Tiefgang.

Ian McEwan: Nussschale, Diogenes Verlag, 22 EUR, ISBN: 9783257069822

hr-iNFO Büchercheck vom 01.12.2016

Roman Voosen/ Kerstin Signe Danielsson: „Der unerbittliche Gegner“
Das deutsch-schwedische Autorenduo Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson hat ihren fünften Krimi veröffentlicht mit dem Titel „Der unerbittliche Gegner“.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
An einem Eisloch in einem See sind acht abgehackte Frauenfinger gefunden worden – Taucher entdecken die dazugehörige Leiche kurz darauf unter der Eisdecke. Nyström und ihr Team sammeln Fakten über die Tote, sprechen mit Freunden und Angehörigen. Bald gibt es schon den nächsten Toten: ein Familienvater ist beim Mountainbike-Fahren mit Hilfe eines zwischen den Bäumen gespannten Drahtseils brutal ermordet worden. Die Anspannung im Kommissariat steigt – Spuren im Schnee deuten darauf hin, dass es in beiden Fällen derselbe Täter war. Wo aber ist die Verbindung? Parallel dazu wird die Geschichte eines Jungen aus dem Kongo erzählt. Mulopos Dorf wird von Rebellen überfallen, die Bewohner abgeschlachtet, Mulopo wird von den Milizen zum Kindersoldaten ausgebildet.

Wie ist es geschrieben?
„Der unerbittliche Gegner“ ist ein überaus fesselnder und  raffiniert konstruierter Krimi in klarer, ausdrucksstarker Sprache. Dazu ein prägnant gezeichnetes Personal im Kommissariat, bei dem die deutsch-schwedische Kommissarin Stina Forss eine wichtige Rolle spielt.

„Ich weiß nicht“, sagt Forss. „Eifersucht, Liebe, alles schön und gut. Aber irgendwie…Du hast diesen hinterhältigen Draht im Wald doch gesehen, das Loch im Eis, den verstümmelten Leichnam: Nach meinem Gefühl kann das, was wir bis jetzt wissen, noch nicht alles sein. Da ist mehr, irgendwie mehr. Ein Mehr an Planung, an Perfidie, an Voraussicht und Sadismus. Die Fälle haben eine Mitte, ein Kraftzentrum, wie ein dunkler, kalter Planet, um den sich alles dreht. Ich spüre, dass da etwas ist, aber ich sehe es nicht vor mir.“ Knutsson blickte sie an. „Was?“, fragte sie. „Das hast du schön gesagt, Stina.“

Und es ist wirklich mehr. In dieser verwickelten Geschichte, in der irgendwann auch Flüchtlinge und Rechtsextreme eine Rolle spielen, ist die naheliegende Lösung garantiert die Falsche. Absolut spannend mit einem grandiosen Finale.

Wie gefällt es?
Den Krimi von Voosen/Danielsson kann ich nur wärmstens empfehlen. Ich habe all die Mitarbeiter des Kommissariats ins Herz geschlossen. „Der unerbittliche Gegner“ ist ein klassischer Ermittler-Krimi: es passieren grausame Morde, es werden Spuren verfolgt, es gibt falsche Verdächtigungen und richtige Vermutungen. Ein rundum richtig guter und atmosphärisch dichter Krimi. Ich bin absolut überzeugt und will jetzt die vier bisherigen Krimis des Autorenduos auch noch lesen.

Roman Voosen/ Kerstin Signe Danielsson: Der unerbittliche Gegner,
Verlag Kiepenheuer & Witsch:  9,99 EUR, ISBN: 9783462049381

hr-iNFO Büchercheck vom 24.11.2016

John Williams: „Augustus“
Der amerikanische Schriftsteller John Williams war eine der großen Wiederentdeckungen  der vergangenen Jahre. Jetzt ist ein weiterer seiner Romane erstmals ins Deutsche übersetzt worden – „Augustus“ heißt er.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Augustus“ ist auf den ersten Blick ein Historienroman, ein Roman über den römischen Kaiser Augustus, der  44 vor Christus als Gaius Octavius im Alter von 19 Jahre das Erbe seines ermordeten Steifvaters Julius Caesar übernimmt; der sich gegen seine machthungrigen Kontrahenten durchsetzt, der die Bürgerkriege im römischen Reich beendet und der Stadt eine 60 Jahre währende Zeit des inneren Friedens und der Stabilität beschert.
Aber dieser Roman ist gleichzeitig eine Art römisches „House of Cards“, ein durch und durch moderner Roman über Intrigen und Verrat, über Spin-Doktoren und Strippenzieher, die vor 2000 Jahren schon genauso ihr Unwesen getrieben haben wie heute.

Wie ist es geschrieben?
„Augustus“ ist ein vielstimmiger Roman, das Who is Who der römischen Geschichte - Caesar, Marc Antonius, Cleopatra und viele mehr - sie alle kommen hier zu Wort. Williams hat Briefe, Tagebucheintragungen genauso wie militärische Erlasse oder Spitzelbrichte erfunden – besser gesagt, nacherfunden - und baut daraus Stück für Stück ein mosaikartiges Bild dieses mächtigsten Mannes der römischen Welt zusammen. Wobei jede der vielen einzelnen Mosaiksteine immer nur einen Teil der Wahrheit widergibt und mitunter sogar vollkommen daneben liegt – etwa wenn der berühmte Redner Cicero nach seiner ersten Begegnung mit Octavius, dem späteren Kaiser Augustus, vollmundig schreibt:

„Ich habe Octavius getroffen. Er hält sich im Landhaus seines Stiefvaters auf, das gleich neben meinem liegt. Der Junge ist ganz ohne Bedeutung, ihn brauchen wir nicht zu fürchten. Ich glaube, er hat großen Respekt vor mir, und ich denke, er könnte sogar auf unsere Seite wechseln, sofern ich dies nur mit entsprechendem Feingefühl angehe. Wir werden ihn benutzen, um ihn später aus dem Weg zu räumen. Damit fände dann die Erbfolge des Tyrannen ihr Ende.“

Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung, die Cicero noch teuer zu stehen kommen wird.

Wie gefällt es?
Eigentlich bin ich kein großer Fan von historischen Romanen, aber nach zehn Seiten hat mich dieser Augustus gepackt, und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen. Dieser Roman ist nicht nur eine spannende Darstellung der römischen Geschichte, er ist auch eine tiefsinnige Reflexion darüber, was es überhaupt heißt, Teil einer Geschichte, Teil der Geschichte zu sein. Das, und die Weise, wie er erzählt wird, machen diesen Roman so modern und lassen uns „Augustus“ als einen Zeitgenossen erleben – eine absolut faszinierende Lektüre – nicht nur für Freunde des Sandalenfilms.

John Williams: Augustus,  Hörverlag,  22,99 EUR, ISBN: 9783844523713
John Williams: Augustus,  dtv Verlagsgesellschaft,  24 EUR, ISBN: 9783423280891

hr-iNFO Büchercheck vom 17.11.2016

Alex Capus: „Das Leben ist gut“
Der Ich-Erzähler in diesem Buch ist wie der Autor ein Schriftsteller. Und wie der Autor betreibt er eine Kneipe in einer Schweizer Kleinstadt. Er hat eine Familie. Drei Söhne, eine Frau. Mit ihr hat er seit Jahrzehnten eine glückliche Ehe, geprägt von Liebe, Treue und Nähe. Seine Kneipe ist gewissermaßen sein Medium, die Welt wahr zu nehmen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Max, der Autor und Kneipier, denkt über sein Leben nach. Ausgelöst wird das durch eine Gastprofessur, die seine Frau an der Pariser Sorbonne wahrnimmt. Zum ersten Mal seit 25 Jahren verbringen sie einige Tage in der Woche getrennt. Die Geschichte umspannt die erste Woche dieser Trennung. Max macht sich Sorgen. Wird ihm seine Frau treu bleiben? Er beobachtet die Kinder, wie sie auf das Fehlen der Mutter reagieren. Aber alles bleibt im grünen Bereich. Max lebt in seinen Tagesstrukturen weiter. Bringt das Altglas seiner Bar zum Container, öffnet und schließt zu gewohnten Zeiten, wischt die Theke und führt seine Gespräche mit den Gästen. Macht, was eben zu machen ist. Und fühlt sich wohl im Vertrauten.

„Wenn mich jemand fragt: weshalb ich die Sevilla Bar gekauft habe, antworte ich dies: weil es im Städtchen keine Bar nach meinem Geschmack gab und weil ich mir ein Leben ohne eine gute Bar nicht vorstellen kann. Es darf nicht sein, dass wir unsere gesamte Lebenszeit in keimfreien Büros und keimfreien Fitnessstudios, keimfreien S-Bahnen und keimfreien Wohnzellen zubringen, und es darf nicht so weit kommen, dass die Menschen einander nur noch im Internet begegnen.“

Aber dieser Kneipier ist eben auch Schriftsteller. Und deswegen ist sein realer Alltag nur ein Teil seines Lebens. Der andere Teil ist seine Phantasie, die Kreativität seiner Gedanken. Er nimmt auf, was er hört und sieht und spinnt es weiter.

Wie ist es geschrieben?
Alex Capus ist nah bei seinen Protagonisten. Wie er sie schildert, wie er ihre Geschichten erzählt, der Ton, die Perspektive, das wirkt fast wie ein liebevolles Streicheln. Selbst ätzende Leute werden eher als kurios beschrieben denn als unsympathisch. Dahinter wird die Neugierde auf Menschen und ihre Geschichten deutlich, eine Leidenschaft für unmittelbare Kommunikation, Blickkontakt und Anfassen. Das schafft einen poetischen Grundton.

Wie gefällt es?
Man könnte meinen, dieser ausschnitthafte Blick auf die Welt sei eng und langweilig. Denn die Krisen unserer Tage, die uns so durchschütteln, schaffen es nicht bis in die Kneipe und damit bis in den Kopf und das Herz des Ich-Erzählers. Das Buch birgt auch einzelne Klischees. Dennoch finde ich es größtenteils gelungen und wichtig. Es ist gut, wo es nah an den Menschen ist und in sie vordringt. Und es ist wichtig, weil es uns eine Perspektive auf die Welt vorführt, die jedem von uns eine Option bietet. Es gibt Mittel und Wege zumindest daran zu arbeiten, dass das Leben gut ist.

Alex Capus: Das Leben ist gut,  Carl Hanser Verlag,  20 EUR, ISBN: 978-3446252677

hr-iNFO Kinderbuch-Büchercheck vom 10.11.2016

David Walliams: “Terror Tantchen”
In England kennt ihn jedes Kind. Den englischen Kinderbuch-Autor und Schauspieler David Walliams. Er gilt dort als erfolgreichster Kinderbuchautor der vergangenen Jahre. Und er wird dort auch als würdiger Nachfolger von Roald Dahl gehandelt: Ebenso wie bei Roald Dahl steckt ordentlich schwarzer Humor in seinen Kindergeschichten.

hr-iNFO Büchercheckerin Corinna Tertel hat das Kinderbuch gelesen.

Worum geht es?
Um die fieseste aller Tanten und um ihre 12jährige Nichte Stella in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in England. Tante Alberta ist so breit wie hoch, da sie sich nur von Nachtisch ernährt. Sie trägt eine Sherlock-Holmes-Mütze, karierte Kniebundhosen und immer ihren großen Bayerischen Berg-Uhu “Wagner” auf der Hand. Alberta ist die größte Gefahr und die größte Peinigerin der 12jährigen Stella, der jungen Lady Stella von Saxby, Besitzerin von Saxby Hall, dem englischen Schloss einer verarmten Adelsfamilie. Stella hat ihre Eltern bei einem Unfall verloren und jetzt will die Tante ihr an den Kragen und ans Erbe: Sie will sich das Schloss Saxby Hall unter den Nagel reißen. Mit allen Mitteln. Und die scheußliche Tante schreckt vor keiner Grausamkeit zurück.

Wie ist es geschrieben?
Spannend und mit einer dicken Portion britischem Humor und etlichen makaberen Momenten. Schon als Kind hat die böse Alberta die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen ihres Bruders gegen Dynamitstangen ausgetauscht. Wie die junge, wohlerzogene Stella, die einzige Überlebende ihrer Familie, aber versucht, ihrer Terror-Tante auf die Schliche zu kommen und diesem Albtraum an Schicksal zu entkommen, das hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Immer wieder erheiternd auch die für David Walliams typischen Aufzählungen. Als er etwa auflistet, welche Kunststücke Tante Alberta ihrem Großen Bayerischen Berguhu beigebracht hat:
  • „Er holte ihre Hausschuhe.
  • Er beherrschte Flugaufklärungsmanöver (ein militärischer Ausruck, den Alberta im Ersten    Weltkrieg aufgeschnappt hatte und der bedeutete, etwas aus der Luft auszuspionieren).
  • Er warf sich im Sturzflug auf Kinderdrachen.
  • Er ließ im Sommer aus der Luft Stinkbomben auf das Dorffest fallen.
  • Er konnte Apfelstrudel backen."

Wie gefällt es?
Auf jeden Fall ist „Terror-Tantchen“ eine packende Abenteuergeschichte. Die rund 400 reichlich illustrierten Seiten sind spannend und unterhaltsam zugleich. Vom Verlag ist das Buch für Kinder ab 10 Jahren empfohlen. Die jungen Leser sollten aber mit Folterszenen auf der Streckbank klarkommen und mit dem überall lauernden Tod zwischen den Buchdeckeln... Für Leseratten, die eher Pferdehof-Lektüre gewohnt sind, liefert „Terror Tantchen“  aber wohl etwas viel  Albtraum-Material. - Apropos Ratten: Im Januar erscheint schon das nächste Buch von David Walliams. Es heißt „Ratten-Burger“. Und das beginnt mit dem Tod eines Hamsters...

David Walliams: Terror Tantchen, rowohlt-rotfuchs, : 14,99 EUR, ISBN: 9783499217418

hr-iNFO Büchercheck vom 03.11.2016

Liza Cody: „Miss Terry“
Es geht nach London, zu einer jungen Lehrerin, in England geboren, mit pakistanischen Wurzeln. Sie lebt in einer Eigentumswohnung, müht sich redlich, nirgendwo anzuecken – und wird dann doch unvermutet in eine Mordermittlung hineingezogen.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Miss Terry heißt eigentlich Nita Tehri und lebt ein zurückgezogenes Leben.  Seit einigen Tagen werden ihre Blicke von einem Müllcontainer angezogen, der auf ihrer Straße abgestellt wurde, und der sich mit Abfall jeglicher Art füllt. Da klingelt die Polizei an ihrer Tür und will wissen, ob sie Leute an dem Container beobachtet habe. Und ihre Nachbarn hätten erzählt, sie hätte in letzter Zeit einiges an Gewicht verloren? Nita sind diese Fragen zu intim, sie wirft den Polizisten raus. Später erfährt sie, dass eine Babyleiche in dem Container gefunden wurde. Und dass die Polizei glaubt, sie habe ihren Säugling umgebracht. Zunächst  fühlt sie sich sicher, ist sie doch unschuldig, doch die Polizei bedrängt sie weiter. Ihre Welt ist aus den Fugen geraten.

Wie ist es geschrieben?
Die Krimis von Liza Cody verdienen eine große Öffentlichkeit – es ist ein Vergnügen, ihr neuestes Werk mit dem Titel „Miss Terry“ zu lesen. Das Buch ist geschrieben aus der Sicht von Nita Tehri, einer jungen Frau, an deren Naivität man verzweifelt, mit der man leidet, der man beispringen möchte angesichts ihrer Unsicherheit und Verzweiflung.

„Das ist so zeitgemäß, dachte Nita stolz, zwei schwule Jungs in meiner Küche, zwei Männer in meiner Küche. Ich koche für zwei Kerle, die nicht mit mir verwandt sind. Es ist ganz normal. …
„Ich sag’s ihr“, verkündete Toby. …
„Ich weiß nicht“, sagte Leo und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. …
„Himmel, nun kommt schon!“
„Also schön“, sagte Toby rasch. „Sergeant Cutler wollte Folgendes wissen: Wie lange wohnst du hier schon? Kennen wir deinen Mann? Und haben wir dir geholfen, das Baby zu kriegen?“
„Was?“
„Natürlich haben wir ihm geantwortet, seit sechs Monaten, und nein, und wovon zum Teufel reden Sie denn da. Bist du verheiratet, Nita? Bisher hab ich hier noch nie auch nur den Hauch von einem Kerl gewittert.“

Wie gefällt es?
„Miss Terry“ von Liza Cody ist ein leiser Krimi, eine Geschichte, die anfangs viele Rätsel aufstellt und nach und nach die Wahrheit entblättert. Der Sog, in den Nita Tehri gerät, ist auch ein Sog, den ich beim Lesen bis zur letzten Seite empfunden habe. Dabei wird die Diskriminierung fremd aussehender Menschen thematisiert, aber auch die frauenfeindlichen Traditionen anderer Kulturen. Das alles ist aber nicht bitterernst, sondern mit Witz und Komik geschrieben  - und dazu kommt ein durchaus skurriles Personal, das mein Lesevergnügen noch gesteigert hat.

Liza Cody: Miss Terry, Ariadne Argument Verlag, 17 Euro, ISBN: 9783867542197

hr-iNFO Büchercheck vom 27.10.2016

„Der Kreis“ von Andreas Maier
Nach „das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“ und „Der Ort“ ist jetzt ist Band 5 erschienen: „Der Kreis“.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Wann und wie entdeckt ein Mensch in sich den Drang zur Kunst oder Künstler zu werden? Darum geht es im Roman, der im Bücherzimmer der Mutter beginnt, wo der Junge staunend eine andere Welt wahrnimmt als draußen, hinter der Fensterscheibe. Eine Welt von Wissen, Philosophie und Poesie. Mit zunehmendem Alter weitet sich der Kreis und am Ende dieses 5. Bandes ist ein Künstler geboren.

Wie ist es geschrieben?
Der Titel des Buchs beschreibt die Struktur des Romans. Maier kreist um die einzelnen Erlebniswelten seiner Figur. Er beschreibt sehr sensibel und genau Phänomene ihres Lebens. So kann er die Stufen der Sensibilisierung für die Kunst detailreich darstellen. Das wirkt sehr authentisch, alltäglich und doch auch scharf analysiert.

Wie gefällt es?
Ich finde, Band 5 ist in Andreas Maiers Romanprojekt ein Höhepunkt. Vor allem, weil Maier nicht akademisch bleibt, sondern die Fragen um das Künstlerdasein eng an reales Leben knüpft und aus den Beobachtungen beziehungsweise Erinnerungen an seine eigene Kindheit die Antworten ableitet.

Andreas Maier: Der Kreis, Suhrkamp Verlag, Euro 20, ISBN 9783518425473


hr-iNFO Büchercheck vom 20.10.2016

Ventoux" von Bert Wagendorp
Bert Wagendorps Roman "Ventoux" erzählt die Geschichte von sechs Freunden. Einer von ihnen verunglückt während eines gemeimnsamen Urlaubs in der Provence mit seinem Fahrrad tödlich. War es ein Unfall oder Selbstmord?

Worum geht es?
Der Ich-Erzähler Bart ist um die fünfzig Jahre alt. Vor dreißig Jahren machte er nach dem Abitur mit seinem engsten Freundeskreis, bestehend aus fünf Jungen und einem Mädchen, Urlaub in der Provence. Drei von ihnen bezwangen den Mont Ventoux mit dem Fahrrad. Bei der riskanten Abfahrt verunglückte einer der Jungen jedoch tödlich. Dreißig Jahre später trifft sich nun dieselbe Gruppe wieder am Mont Ventoux, um den Berg ein zweites Mal zu befahren, aber auch um das Rätsel um den Tod von damals zu lösen. Denn bis heute ist unklar, ob Peters Tod ein Unfall war oder Selbstmord.

Wer hat es geschrieben?
Mit seinem Roman landete Bert Wagendorp in den Niederlanden einen echten Überraschungscoup. "Ventoux" ist aber weitaus mehr als ein Roman über das Radfahren. Er ist psychologisch interessant, denn die sechs Freunde sind nicht nur total verschieden, sie haben auch vollkommen unterschiedliche und zum Teil sehr schwierige Schicksale. Kompliziert und geheimnisvoll ist auch die Rolle von Laura, der einzigen Frau im Freundeskreis. Es geht aber auch um das Älterwerden, um das, was man innerhalb von dreißig Jahren verliert aber auch gewinnt. Dazu kommt, dass das Fahrradfahren hier weitaus mehr als ein Radeln ist. Es ist auch Ausdruck der Lebenshaltung und Mittel der Lebenserfahrung.

Beim Radfahren kam mir allmählich die Erkenntnis, dass man jederzeit die Wahl zwischen rechts und links hat. Dass man immer dieselbe Strecke fahren, aber auch eine andere ausprobieren kann. Dass sich zwar manches einfach so ergibt, vieles aber von einem selbst abhängt...Auf dem Fahrrad hat man das Gefühl, dass die Zeit stillsteht, oder dass sie zumindest keine Bedrohung ist. Das Fahrrad ist ein Wundermittel gegen die Verzweiflung...Gemeinsam Rad fahren, das ist Freundschaft, Liebe, Verbundenheit.

Wie ist es geschrieben?
Mit viel Schwung, Witz und Ironie! Die Atmosphäre der achtziger Jahre wird fast sinnlich spürbar. Die Musik, die Verliebtheit, das unbekümmerte Leben der jungen Leute, die flapsigen Dialoge und der Charme des Aufbruchs. Manchmal hat der Roman mich von Ferne an Wolfgang Herrndorfs "Tschick" erinnert. Dazu kommt allerdings ein leicht wehmütiger Unterton. Auch in den dramatischen Episoden, von denen es einige gibt, wird es nie pathetisch. Nur der Schluss ist ein wenig sentimental.

Wie gefällt es?
Ich habe Bert Wagendorps "Ventoux" sehr gerne gelesen. Denn es geht um viel mehr als um das Radfahren. Es geht um Erinnerung, Verliebtheit, Liebe, um das Älterwerden und das Leben selbst. Es geht um "jene seltsamen Wendungen des Lebens, für die es keine Erklärung gibt und die wir nur voller Dankbarkeit akzeptieren können." Und das sind Wendungen, die uns nicht nur in Büchern begegnen, sondern auch auf dem Fahrrad und im wirklichen Leben.

Bert Wagendorps: Ventoux, btb Verlag, 2016, 19,99 Euro, ISBN: 9783442754755


hr-iNFO Büchercheck vom 13.10.2016

Michael Krüger: „Das Irrenhaus“
Michael Krüger gilt als deutsche „Verlegerlegende“. Einen Namen gemacht hat er sich auch als Kritiker, Lektor, Herausgeber, Übersetzer, Lyriker und Erzähler. Mittlerweile ist der 73-Jährige im Ruhestand. Literatur kann er trotzdem nicht lassen. „Das Irrenhaus“ so heißt sein neuer Roman.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Nicht in einem „echten“ Irrenhaus spielt Michael Krügers neuer Roman,  sondern in einem großen Mietshaus. Das wird bewohnt von „lauter Irren“, wie der 40jährige Ich-Erzähler nicht müde wird zu betonen. Bewohnt von „gemeinen, banalen, widerlichen Missgeburten“. Diese Missgeburten schildert der Erzähler dann aber doch genüsslich, mit Akribie und großer Komik.
Früher war der Erzähler Archivar, das heißt, jemand, für den Fakten zählen. Aber den Job hängt er an den Nagel, als er auf dubiose Art ein ganzes Mietshaus in München erbt. Dort quartiert er sich inkognito ein, bewohnt eine fast leere 6-Zimmer-Wohnung und entschließt sich, mit seinem vielen Geld ein neues Leben zu beginnen.

Wie ist es geschrieben?
Mir erscheint Michael Krügers Roman wie ein ironisches Spiel mit Lebensentwürfen, Lesererwartungen, literarischen Formen und komischen Figuren. Ein Spiel auch mit philosophischen Maximen – die Welt als Irrenhaus -  und mit literarischen, auch musikalischen Motiven. Schließlich ist „Das Irrenhaus“ auch ein Spiel mit dem Thema Schreiben und der Identität des Schriftstellers. Denn der Dichter Georg Faust hat Gedichte geschrieben, die denen des Dichters Michael Krüger  ähneln bzw. sogar von ihm stammen. Und der Ich-Erzähler wiederum spielt ja die Rolle des Georg Faust. Krügers „Irrenhaus“ ist ein hintersinniges Vexierspiel mit der Autorschaft und dem Erzählen.

„Wer mit seinem Leben nichts anfängt, hatte ich auf einem meiner Streifzüge durch die Buchhandlungen bei einem Franzosen gelesen, schreibt, dass er nichts mit ihm anfangen kann, und so ist immerhin etwas getan. Wer sich durch die flüchtigen Geschehnisse des Alltags vom Schreiben abhalten lässt, wendet sich diesen Flüchtigkeiten zu und erzählt von ihnen, indem er sie als Flüchtigkeiten bezeichnet oder Spaß an ihnen findet, und schon ist sein Tag ausgefüllt.“

Wie gefällt es?
Michael Krüger bietet uns intelligente Unterhaltung. Die habe ich einerseits genossen, wirklich gefesselt hat mich dieser Roman aber nicht. Dafür ist er mir zu konstruiert, auch zu klamaukig.
An einigen Stellen allerdings schimmert eine ganz persönliche Betroffenheit durch. Da sagt z.B. ein alter Türke zum Erzähler: „Ich sehe dir an, dass du nicht aufgeben kannst.“ An solchen Stellen wird deutlich: Hier geht es auch um Michael Krüger selbst, um den erfolgreichen Verleger, der jetzt 73 Jahre alt ist. Und auf der Suche nach einer Haltung dem Alter gegenüber, nach einem neuen Sinn. Aber den hat er ja jetzt gefunden: im Schreiben.

Michael Krüger: Das Irrenhaus, Haymon Verlag 2016, 19,90 Euro, ISBN: 9783709972526


hr-iNFO Büchercheck vom 06.10.2016

Jari Järvelä: „Weiss für Wut“
Das Buch „Weiss für Wut“ von Jari Järvelä ist kein klassischer Krimi, hier sucht kein Kommissar nach einem Mörder. „Weiss für Wut“ ist ein Spannungsroman um Street-Art-Künstler in Finnland.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Während der internationale Graffiti-Star Banksy weltweit gefeiert wird, ist die Welt für die normalen Sprayer und Street-Art-Künstler doch wesentlich anstrengender. Metro ist eine 19jährige Frau, die mit ihrem Freund nächstens unterwegs ist, um sich an ungewöhnlichen Orten mit heimlich gesprayten Kunstwerken zu verewigen. Immer auf der Hut vor den Sicherheitsdiensten, die sie Ratten nennen. An einem Abend auf dem Rangierbahnhof werden sie entdeckt – Metro kann fliehen, doch ihr Freund Rust wird von den Sicherheitskräften verfolgt und schließlich auf einem Dach in die Enge getrieben.

„Rust schob sich ein paar Meter höher in Richtung der beiden Ratten auf dem Dach. Schließlich streckte er die Hand aus, damit die Ratte sie ergreifen konnte. Einen Augenblick lang sahen die beiden aus wie Adam und Gott auf Michelangelos Fresko an der Decke der Sixtinischen Kapelle. …Doch urplötzlich zog der Rattengott seine Hand zurück und stieß Rust den Teleskopstock gegen die Brust.
In diesem Augenblick blieb meine innere Uhr stehen.“

Danach ist Metro nur noch von Rache getrieben. Sie findet heraus, welche Sicherheitsleute an dem Abend Dienst hatten, sie glaubt, den Täter gefunden zu haben und schikaniert ihn. Stellt ihn öffentlich bloß. Ruiniert ihn. Und setzt damit eine neue Welle der Gewalt in Gang.

Wie ist es geschrieben?
Rasant und sehr spannend -  „Weiss für Wut“ von Jari Järvelä ist ein dramatisches Buch, geschrieben aus zwei Perspektiven: von Metro, der jungen Frau, die nach dem Mord an ihrem Freund keinen anderen Weg kennt, als ihre Trauer in Rache umzuwandeln. Und von Jere, dem Sicherheitsmann, dem das Leben zur Hölle gemacht wird, und der nun alles daransetzt, diese Qualen zu beenden. Diese eskalierende Gewalt ist roh, brutal und direkt beschrieben – doch „Weiss für Wut“ ist kein düsteres Werk, kein pessimistischer Buch – der Krimi ist auch leicht und manchmal sogar humorvoll.

Wie gefällt es?
„Weiss für Wut“ ist ein Krimi, in dem mehr steckt als nur die oberflächliche Auseinandersetzung zwischen zwei Gegenspielern, den Sprayern und dem Sicherheitsdienst. Mir hat die gut recherchierte Geschichte um die europäische Street-Art-Szene sehr gut gefallen, bei der erörtert wird, wem eigentlich der öffentliche Raum gehört, warum in Finnland Graffitis so heftig verfolgt und bestraft werden, während alle Straßen voller Werbung und Reklametafeln sind.  Ein Einblick in eine Szene, die ich so noch nicht gekannt habe.

Jari Järvelä: Weiss für Wut, carl’s books, 14,99 Euro, ISBN: 9783570585528


hr-iNFO Büchercheck vom 29.09.2016

Donal Ryan: „Die Gesichter der Wahrheit“

Irland nach dem Boom, Irland in der Wirtschaftskrise. Die Gesellschaft hat sich verändert, ihre Werte haben sich verändert. Es gibt ein paar Gewinner und viele Verlierer. Was geht in den Menschen vor? Das ist das Thema von Donal Ryans Roman.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der deutsche Titel des Buchs „Die Gesichter der Wahrheit“ ist Programm. Wir lernen 21 Menschen kennen, die uns erzählen, wie es ihnen geht. Ökonomische Probleme, persönliche Probleme, Enttäuschungen, Wut, Verzweiflung, Fatalismus. Alle sind sie irgendwie Opfer. Einige haben für einen Bauunternehmer aus dem Ort gearbeitet, der eine Siedlung nach der anderen hochzog und sich mit dem Geld davon machte, als die Immobilienblase platzte. Zurück bleiben die Arbeiter, die nicht nur keinen Lohn mehr haben, sondern auch noch entdecken müssen, dass der Bauunternehmer ihre Sozialbeiträge unterschlug. Und sie müssen lernen, dass die Behörden nicht weiterhelfen. Allesamt Menschen, die durch ihr Schicksal nachhaltig verunsichert und mehr oder weniger sprachlos geworden sind. Jeder versucht sich irgendwie durch zu schlagen, die Gemeinschaft bleibt dabei auf der Strecke.

Wie ist es geschrieben?
21 Menschen im Umfeld eines Ortes, 21 Kapitel eines Romans. Jeder erzählt seine Geschichte aus seiner Perspektive, die einzelnen Sichtweisen ergänzen sich zu einer Gesamtsicht im Kopf des Lesers. Analog zu dieser Konstruktion ist auch die Sprache der Protagonisten höchst unterschiedlich. Mal zum Beispiel sensibel und elaboriert, mal blaffender Jargon. Dieser Wechsel der Sprache von Kapitel zu Kapitel ist nicht nur kurzweilig, er schafft auch Atmosphäre im gesamten Buch. Verstärkt werden diese Monologe durch einfache, aber sehr bildhafte Beschreibungen. Donal Ryan ist damit ganz nah bei seinen Figuren. Zum Beispiel bei Bobby, dem Vorarbeiter.

„Ich hätte wissen müssen, das was nicht stimmt, als Mickey Briars letztes Jahr ankam und nach seiner Betriebsrente fragte. Jungs, wusstet ihr, dass wir alle Anspruch auf 'ne Betriebsrente haben? Wussten wir nich, Mickey. Is so, bei 'nem Verein namens SIF. So 'ne richtige Betriebsrente, nich nur die von Vater Staat. Die ist extra.“

Wie gefällt es?
Ich finde, Donal Ryan ist eine meisterliche Mischung gelungen. Das Erzählen aus der Perspektive der Figuren erzeugt eine Unmittelbarkeit, die ich berührend finde. Und durch die mosaikartige Gesamtperspektive, in der die Figuren und ihr Erleben in den unterschiedlichsten Sichtweisen auftauchen, entsteht eine facettenreiche gesellschaftliche Analyse. Als Leser gewinnt man dadurch einen scharfen Blick auf ein zeitgenössisches Irland, zumindest eins von 2012. Dass Ryan dabei auch irische Archetypen durchscheinen lässt, die man aus der irischen Literatur zu kennen glaubt, das macht für mich noch einen zusätzlichen Reiz aus.

Donal Ryan: Gesichter der Wahrheit, Diogenes Verlag,  22 Euro, ISBN: 9783257069631

hr-iNFO Büchercheck vom 22.09.2016

Tilmann Rammstedt: „Morgen mehr“
Tilman Rammstedt hat eine Vorliebe für knifflige Herausforderungen, - davon bleiben auch seine Figuren nicht verschont.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Für den Erzähler seines neuesten Romans besteht die Herausforderung darin, dass er seine Eltern dazu bringen muss, einander zu finden und ihn exakt am 30. Juni 1972 zu zeugen. Das klingt ein wenig nach dem 80er-Jahre-Kinoklassiker „Zurück in die Zukunft“, ist aber viel lustiger und vertrackter. Denn zu Beginn des Romans ist die Mutter des Erzählers drauf und dran, sich von einem schwermütigen Franzosen verführen zu lassen, während sein Vater kurz davor steht, mit einbetonierten Füßen in den Main geworfen zu werden. Wie es dem Erzähler trotz dieser denkbar schlechten Voraussetzungen gelingt, seine Eltern zusammen zu bringen– das erzählt Tilman Rammstedt in einem aberwitzigen Roadmovie-Roman, der von Frankfurt über München nach Paris führt.

Wie ist es geschrieben?
Dieser Roman ist rasant, witzig, voller Überraschungen – und das ist noch untertrieben. In 68 Kapiteln folgt ein absurder Einfall dem anderen. Das Tempo ist dementsprechend hoch, und der Text bewegt sich von Cliffhanger und Cliffhanger. Dazu kommen wunderbar skurrile Figuren, die man einfach liebgewinnen muss, allen voran der liebeskranke Vater des Erzählers, der seinen Schmerz in  erhabenen Gedichtzeilen wie diesen auszudrücken versucht:

„Die leere Dose schon
Halb voller Tränen
Und mit dem rechten Auge
Habe ich noch gar
Nicht angefangen“

Oder Dimitri, der Frankfurts neuer Unterweltkönig werden will – und das, obwohl er eigentlich Uwe heißt und seiner Dialektfärbung nach zu schließen wahrscheinlich aus Offenbach kommt. Dafür verdanken wir ihm aber eine der schönsten Dialogstellen des Romans:

„Wir wissen dass Dimitri von Claudias Mutter erfahren hatte, wohin die Hochzeitsreise gehen sollte, nämlich in die „Stadt der Liebe“. Und wir wissen, dass Dimitri daraufhin „also Hanau, oder?“ gesagt hatte.“

Wie gefällt es?
Das fragen Sie noch? -  „Morgen Mehr“ ist der witzigste Roman, den ich in diesem Jahr gelesen habe. Und wenn Sie jetzt befürchten, dass das alles vielleicht doch zu klamaukig sein könnte – auch da kann ich Sie beruhigen. Bei all dem Quatsch, den Tilman Rammstedt virtuos in Szene setzt – so stellt er doch auch ganz grundsätzliche Fragen nach dem Wesen der Zeit oder des
Erzählens – nur dass er das eben auf eine herzerfrischend witzige Weise macht. Philosophie zum Mitlachen eben. Was will man mehr?

Tilman Rammstedt: Morgen mehr, Hanser Verlag, EUR  20 Euro, ISBN: 9783446250963

hr-iNFO Büchercheck vom 15.09.2016

Kirsten Boie, Jan Birck: „Bestimmt wird alles gut“

Auf einmal sind sie da, an den Schulen, in den Klassen: die Flüchtlingskinder. Aber wie bringe ich einem Grundschulkind bei, was Flüchtlinge sind? Wovor sie geflohen sind und warum sie es hier in der „Fremde“ erst mal nicht leicht haben? Ein Kinderbuch über das Flüchten und das Ankommen, in arabischer und in deutscher Sprache.

hr-iNFO Büchercheckerin Corinna Tertel hat das Kinderbuch gelesen.

Worum geht es?
Die zehnjährige Rahaf erzählt von zu Hause, von Homs in Syrien, als noch alles gut war. Davon, wie die Flugzeuge mit dem Bomben kamen, von der Flucht übers Mittelmeer ohne Geld und Gepäck, vom Containerleben in Deutschland. Von Angst, von Heimweh und davon, dass sie in der Schule kein einziges Wort verstanden hat.

Wie ist es geschrieben?
„Bestimmt wird alles gut“ ist eine wahre Geschichte, die Kirsten Boie von einem Flüchtlingskind erzählt bekommen hat und hier nacherzählt. Mit kurzen, einfachen Sätze, einer kindlichen Perspektive und Sprache.

„Darum wussten jetzt alle Leute auf dem Schiff, dass die Schleuser Verbrecher waren, keine guten Menschen. Sie wollten den Flüchtlingen gar nicht helfen, aus dem Krieg in ein sicheres Land zu kommen. Sie wollten nur ganz viel Geld verdienen. Als es Nacht geworden war, haben alle Menschen versucht, sich an Deck auf dem Boden auszustrecken. Aber da war längst nicht genug Platz. „Mir ist so kalt!“ hat Rahaf wieder geflüstert. Papa hat seinen Pullover ausgezogen und ihn über sie gebreitet. „Jetzt ist dir warm!“, hat Papa gesagt. Schlaf schön, meine Rahaf.“

Für Kinder von hier, um zu verstehen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein, und für geflüchtete Kinder, um sich ein wenig wiederzufinden.
Und weil’s ein Kinderbuch ist, gibt’s natürlich auch Bilder. Die Illustrationen von Jan Birck sind überwiegend in grau gehalten. Das bedrohliche Mittelmeer, die Menschenmengen am Bahnhof und mittendrin die sorgenvollen Gesichter von Rahafs Familie wirken beklemmend.  Doch hoffnungsvolle Momente sind bunt gezeichnet: Wie die nette Mitschülerin, zu der Rahaf erste Kontakte knüpft.

Wie gefällt es?
Die Geschichte der zehnjährigen Rahaf geht ganz schön unter die Haut. Es Kindern vorzulesen ohne an manchen Stellen schwer zu schlucken geht kaum.  „Ab 6 und für alle“ steht als Altersempfehlung auf der Rückseite. Kindern ab 7 oder 8 würde ich sie vorlesen, nicht früher. Es ist ein trauriges Buch, aber auch ein hoffnungsvolles. Aber in jedem Fall
eins, dass selbst Erwachsenen nicht besser Empathie für Flüchtlingsschicksale nahebringen könnte. Allein deshalb in meinen Augen schon absolut lesens- und vorlesenswert.

Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut, Klett Kinderbuch, EUR 9,95, Illustrator Jan Birck, ISBN: 9783954701346

hr-iNFO Büchercheck vom 08.09.2016

„Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff

Zwei Menschen zwischen Ende 50 und Mitte 60 laufen sich in ihrem Altersrefugium in den Alpen mehr oder weniger zufällig über den Weg. Sie entschließen sich für eine Spritztour Richtung Süden, die sich zum Abenteuer entwickelt.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Er heißt Reither, sie Palm. Reither hatte einen Verlag und eine Buchhandlung in Frankfurt. Besondere Bücher verlegte er, bis er erkannte, dass es offenbar mehr Schreiber gibt als Leser. Er verkauft alles und zieht in eine Seniorenanlage. So machte es auch Palm. Sie hatte zuvor einen Hutladen. Aber, so sagt sie,  für ihre Hüte habe es keine Gesichter mehr gegeben. Zwei desillusionierte Leben voller Narben, Wehmut und Einsamkeit.

„er blieb auf der schnelleren Spur und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, wenn es Gedanken waren, oder wie konnte man denken, wenn man eigentlich nur seinen Kopf an den des anderen legen wollte – was hatte er damals nicht alles hin– und hergewälzt und für Denken gehalten (…) das Glück und das Unglück beginnen mit dem ersten Tag, an dem man sich fragt, ob man eigentlich gern auf der Welt ist.“

Sie fahren und fahren immer weiter, bis sie in Sizilien ankommen. Sie durchleben und durchleiden dabei vergangene Freuden und Verletzungen erneut, öffnen sich füreinander und erleben fast einen zweiten Frühling. Aber nur kurz. Ein Mädchen, Streunerin oder Flüchtling vielleicht, schließt sich ihnen an. Reither und Palm glauben fast, nochmal ein neues familiäres Leben beginnen zu können. Aber die Wirklichkeit schlägt bitter zu.

Wie ist es geschrieben?
Man kann dieses Buch als eine Novelle über die Liebe und das Leben lesen, man kann sie als Text für einen Roadmovie lesen oder auch als Protokoll der Entstehung eines Buches. Denn auf einer zweiten Ebene, sehr gut versteckt hinter der Handlung, entsteht der Text, den man gerade liest. Eine sehr kunstvolle Konstruktion also, die Kirchhoff sehr gekonnt mit fließenden Sätzen füllt. Diese Sprache zieht rein in den Text und lässt nicht mehr los.

Wie gefällt es?
Für mich hat Bodo Kirchhoff erneut ein großartiges Buch geschrieben. Es steckt so viel Leben in ihm, auch wenn die beiden Protagonisten mehr verpasst als erlebt zu haben scheinen. Aber auch das ist, zum Ende hin, eine Erkenntnis und auch eine Warnung. Am kürzesten bringt Reither sie auf den Punkt, als er sich an eine Lateinlektion seines Vaters erinnert, an die Konjugation des Verbs lieben. Erinnern kann er sich an das Futur II: ich werde geliebt haben.

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis, Frankfurter Verlagsanstalt, 21 Euro, ISBN: 9783627002282



hr-iNFO Büchercheck vom 01.09.2016


"Wolfsspinne" von Horst Eckert
Die Hintergründe der Morde des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes werden immer noch ermittelt, die Verwicklung des Verfassungsschutzes in diese Morde ist immer noch nicht restlos geklärt. Vor diesem Hintergrund spielt der neue Krimi von Horst Eckert. Karin Trappe stellt ihn vor.

Worum geht es?
November 2015, die Wirtin eines Düsseldorfer Szene-Restaurants wird brutal ermordet. Vincent Veih leitet die Ermittlung, er findet heraus, dass die Frau drogenabhängig war. Bei der Suche nach den Dealern stößt Veih auf einen entfernten Cousin, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Dieser Ronny ist verdeckter Ermittler beim Landeskriminalamt, eingesetzt im Drogenmilieu. Er hat aber auch noch starke Kontakte zur Neonazi-Szene, der er früher als Mitglied und dann als V-Mann in Thüringen angehört hat. Und jetzt stoßen Ronnys Untergrund-Aktivitäten und die Suche von Kommissar Veih nach den Mördern der Düsseldorfer Wirtin zusammen: Veih findet nämlich heraus, dass Neonazis hinter den Drogengeschäften stecken. Dealer, die auch in Verdacht stehen, Anschläge auf Migranten verübt zu haben. Als weitere Leichen gefunden werden, überschlagen sich die Ereignisse.

Wie ist es geschrieben?
Der Krimi fängt langsam, fast harmlos an. Dann aber nimmt die Geschichte Fahrt auf, und das ist dicht erzählt, es reiht sich Spannungsbogen an Spannungsbogen. Autor Horst Eckert beherrscht sein Metier, er schafft es vor allem in den sehr realistischen Dialogen, eine glaubwürdige und spannende Geschichte zu erzählen. Dabei verquickt er reale Ereignisse der Rechts-Terroristen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes mit fiktiven Elementen. Die Geschichte von V-Mann Ronny ist dabei in Rückblenden erzählt: Damals, im Dezember 2011, hat er den NSU beobachtet, deren mörderisches Wirken erst durch den angeblichen doppelten Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnmobil in Eisenach aufgedeckt wurde. Im Krimi nun ist V-Mann Ronny mit im Wohnmobil mit den beiden Tätern, die hier andere Namen als in der Realität haben.

Gerri richtete sich auf. Ronny feuerte aus der Hüfte. Das schwere Flintenlaufgeschoss riss einen Krater in Gerris linke Schläfe. Die andere Kopfhälfte explodierte. Der Kamerad schlug gegen die Seitentür und sackte zu Boden.
Der Rückstoß war heftig gewesen. Die Wand des Wohnmobils war völlig besudelt. Ronny zitterte und hätte die Pumpgun am liebsten fallen gelassen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Was soll der Scheiß“, schrie Max.
Das fragst du?“, brüllte Ronny zurück…. „Warum fangt ihr wieder mit den verdammten Überfällen an, warum hört ihr nicht auf mich?“
„Sie werden uns nicht kriegen!“
„Hast du eine Ahnung.“
„Kamerad, lass mich abhauen, bitte.“ Max ging heulend auf die Knie. „Warum? Ich meine, wie kannst ausgerechnet du – wir sind doch…“
Ronny stieß ihm die Mündung des Laufs gegen die Zähne und drückte ab.
Die Wucht des Schusses warf Max gegen die Rückwand. S. 157

Wie gefällt es?
„Wolfsspinne“ von Horst Eckert ist ein mit Fakten gespickter Krimi, der aber natürlich Fiktion ist. Die Zweifel vieler Experten daran, dass sich die beiden Täter des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes selbst in einem Wohnwagen in Eisenach ermordet haben sollen, ist Grundlage für eine Geschichte, die weitergesponnen wird. „Wolfsspinne“ ist ein politischer Krimi auf höchstem Niveau. Und mit der Verbindung zu heutigen Pegida- und ähnlichen Erscheinungen zeigt Horst Eckert, wie gefährlich der Rechtsextremismus ist oder sein kann. Der Krimi zeigt klar Haltung, und das hat mir am meisten imponiert.

"Wolfsspinne" von Horst Eckert, Wunderlich-Verlag, 19,95 Euro, 978-3-8052-5099-3



hr-iNFO Büchercheck vom 25.08.2016


„Die Konsequenzen“ von Niña Weijers

Wenn man auf den Knopf drückt, kommt der Fahrstuhl. Das ist einfach. Leider ist es im Leben oft viel schwerer abzusehen, welche Konsequenzen unser Handeln oder Nicht-Handeln haben wird. - Darum geht es in Nina Weijers Roman „Die Konsequenzen“.  Und um eine merkwürdige Künstlerin.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Minnie Panis gibt Rätsel auf. - Als Baby wollte sie partout nicht schreien. Und heute, mit Ende zwanzig, ist sie eine Künstlerin, die keine Künstlerin sein will – und gerade dafür von der Kunstwelt gefeiert wird. Sie macht ihr Leben zur Kunst. Zum Beispiel, indem sie alles verkauft, was sie besitzt, bis auf die eigenen Milchzähne. Eine Arbeit über das Loslassen.

„Tausende von Augen blinzelten erstaunt beim Anblick des unwahrscheinlichen, grandiosen Lichts, das plötzlich auf die Welt herabgesunken war und die Atmosphäre blau tönte. (…) Es bleibt die Frage, warum Minnie gegen zwei Uhr mittags mutwillig das zu dünne Eis betrat und dort stehen blieb, während es brach, lediglich leicht erstaunt, als sie sich unter ihren Füßen vollzog, diese Transformation von fest zu flüssig.“

Wie ist es geschrieben?
Es ist spannend, allmählich Minnies ungewöhnlicher Geschichte und ihrer Kunst auf die Schliche zu kommen – Rückblick für Rückblick setzt sich das Puzzle zusammen. Weijers schreibt aus Minnies Perspektive – und findet treffsichere Worte für ihre interessanten Beobachtungen: zum Wesen der Kunst – und zum widersprüchlichen Wesen der Menschen. Das ist so witzig wie klug!

Wie gefällt es?
Es gibt Romane, die trägt man immer bei sich. „Die Konsequenzen“ von Ninja Weiers ist so einer. Für mich ein Kleinod. Die schräge, witzige, kluge Minnie hat mich so gut unterhalten, dass ich nach der letzten Seite wehmütig wurde. Sie wird mir fehlen.

Niña Weijers: Die Konsequenzen Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp, 359 Seiten, 22,- Euro, ISBN: 978-3518425589



hr-iNFO Büchercheck vom 18.08.2016


Patricia Melo: Trügerisches Licht
Die Autorin Patrícia Melo wirft mit dem Krimi „Trügerisches Licht“ einen Blick auf ein Brasilien, das in Gewalt zu versinken droht.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat das Buch gelesen.

Worum geht es?
Der äußerst populäre Fernsehstar Fábbio Cássio sonnt sich in seiner Beliebtheit. Doch dann passiert es. Die Waffe, mit der sich der von ihm gespielte Protagonist am Ende erschießt, ist tatsächlich geladen.
Fábbio Cássio stirbt auf der Bühne. Azucena, die Leiterin der Spurensicherung bei der Polizei von Sao Paulo, übernimmt die Ermittlung.

“Sie ging neben dem Leichnam in die Hocke und untersuchte ihn sorgfältig. Der Umstand, dass er über eine Stunde lang auf der Bühne gestanden und einen deprimierenden Künstler gespielt hatte, ehe er sich eine Kugel in den Kopf jagte, brachte sie auf zwei Gedanken. Entweder handelte es sich um ein Ritual, und er war ein Märtyrer, nicht viel anders als ein Selbstmordattentäter. Oder es war Mord.“

Die Anzeichen für Mord verdichten sich bald. In Verdacht gerät zunächst die junge und naive Ehefrau, die als Kandidatin einer Reality-Show den Tod ihres Mannes gezielt zu ihrem Vorteil einsetzt.

Wie ist es geschrieben?
„Trügerisches Licht“ erzählt im knappen und schnörkellosen Stil über die Ermittlungen von Azucena, die sich im männerdominierten Kommissariat behaupten muss.

Wie gefällt es?
Mich hat fasziniert, wie Patrícia Melo parallel zur spannenden Haupthandlung die korrupte und kriminelle Gesellschaft Brasiliens schildert, in der auch die Polizei verwickelt ist. Doch das ist nicht alles: „Trügerisches Licht“ thematisiert auch die oberflächliche Welt des Showbusiness.

Patricia Melo: Trügerisches Licht, Tropen Verlag bei Klett-Cotta, Stuttgart, Euro 14,95, ISBN 9783608502152



hr-iNFO Büchercheck vom 11.08.2016


Stewart O‘Nan: Westlich des Sunset
Der US-Autor Stewart O’Nan hat den Kampf des amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald gegen den Untergang zum Thema seines Romans „Westlich des Sunset“ gemacht.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat das Buch gelesen.

Worum geht es?
Fitzgerald ist finanziell mehr als klamm. Die Krankheit seiner Frau verschlingt Geld, das Studium von Tochter Scottie auch. Er selbst trinkt, hat Herzprobleme. Da seine Stories bei den Zeitschriften nichts mehr abwerfen, seine Romane nicht mehr ankommen, verdingt er sich in Hollywood. Er lebt in einem Hotelappartement. Am Pool trifft er einige der Größen seiner Zeit. Aber das sind nur letzte Früchte des vergangenen Ruhms.

“Diesmal war es mehr als ein Stechen. Das Zimmer flimmerte, wurde langsam dunkel. Er verlor den Halt und spürte, wie er stürzte und wild herumfuchtelte, und bevor die Finsternis ihn verschluckte, beteuerte er mit dem letzten hilflosen Gedanken: Aber ich bin noch nicht fertig.“

Das ist wohl das Thema dieses Buchs: immer weiter machen, nicht aufgeben, auch wenn das Glück auf immer verloren ist.

Wie ist es geschrieben?
Es ist ein melancholischer Erzählton, den O´Nan anschlägt.  Andererseits wirkt vieles protokollarisch und distanziert. Dabei gibt es durchaus starke atmosphärische Szenen.

Wie gefällt es?
Wer sich für Schriftsteller interessiert, für Menschen im aussichtslosen Kampf mit sich selbst, für schillerndes Szeneleben oder für Hollywood Ende der dreißiger Jahre, der ist hier richtig.

Stewart O’Nan: Westlich des Sunset, Rowohlt Verlag, Reinbek, Euro 19,95, ISBN 9783498050450



hr-iNFO Büchercheck vom 04.08.2016


Denise Mina: Die tote Stunde
Der neue Krimi der schottischen Autorin Denise Mina spielt in Glasgow Mitte der 1980er Jahre: „Die tote Stunde“.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat das Buch gelesen.

Worum geht es?
Paddy Meehan ist eine junge Journalistin bei den Scottish Daily News. Seit Wochen hat sie Nachtschicht. Der Polizeifunk führt sie in einen reichen Vorort. Eine Frau wurde übel zugerichtet. Die Polizei will die Sache nicht weiter verfolgen und auch Paddy lässt sich vom Hausbesitzer abwimmeln. Trotzdem hat sie Gewissensbisse, erst recht, als am nächsten Morgen die Leiche der Frau gefunden wird.

Wie ist es geschrieben?
Denise Mina hat in ihrem Krimi „Die tote Stunde“ eine starke Protagonistin geschaffen. Die Reporterin Paddy liebt ihren Job, hat aber auch ständig Angst um ihn, leidet unter den Kollegen, hat aber dennoch einige Verbündete. Dass Denise Mina die Arbeiterklasse am Herzen liegt, schwingt dabei immer mit. Nicht aber, ohne die Spannung zu vernachlässigen. Bald wird Paddy nicht nur von den  Mördern, sondern auch von der Polizei unter Druck gesetzt. Wirklich Angst bekommt sie, als ein Brandanschlag auf ihr Redaktionsauto mit Fahrer Billy verübt wird.

“Ein glühender Ball aus orangerotem Licht verbrannte die empfindliche Hornhaut von Paddys Augen, bevor sie auch nur Zeit hatte, zu blinzeln. Sie fiel nach hinten, hielt sich die Hand vor Augen und stolperte über die Treppe. Sie hörte das Feuer im Auto aufflammen und knistern. Jede Scheibe im Auto war geplatzt und zersplittert, wütende orangefarbene Flammen züngelten bis zum Dach. Die Fahrertür stand offen. Billy lag auf dem Boden, doch ihr Blick auf ihn war verstellt durch Ärzte und Schwestern. Zwischen den Beinen der Mediziner sah man einen verkohlten Arm, die rohen roten Finger zu einer Klaue zusammengekrümmt.“

Wie gefällt es?
„Die tote Stunde“ von Denise Mina hat so vieles, das mich beeindruckt hat. Es ist ein fesselnder Krimi und eine einfühlsame Sozialreportage. Korruption bei der Polizei ist das große Thema dieses überaus spannenden Krimis.

Denise Mina: Die tote Stunde, Heyne Verlag, München, Euro 9,99, ISBN 9783453434929



hr-iNFO Büchercheck vom 28.07.2016


Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin war eine amerikanische Autorin. Zu Lebzeiten war sie nicht sonderlich erfolgreich, aber dann erschien im vergangenen Jahr in den USA ein Band mit Kurzgeschichten von ihr. Jetzt ist er unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ auf Deutsch erschienen.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Dieses Buch ist eine ganz besondere Form der Autobiografie. Hier puzzelt eine Frau in 30 Geschichten ihr eigenes Leben zusammen. Die meiste Zeit muss sie sich mit schlecht bezahlten Jobs durchschlagen, und trotzdem bleibt sie eine aufmerksame Beobachterin, die in allem Elend auch die Schönheit wahrnimmt.

Wie ist es geschrieben?
Lucia Berlin erzählt Geschichten, die auf direktem Weg ins Herz einer Situation und der Figuren führen. Nichts ist hier Klischee, kein Gefühl wirkt aufgesetzt, nichts kalkuliert, und gleichzeitig gibt es in diesen mitunter todtraurigen Geschichten keinen Funken Selbstmitleid:

“Auf irgendeiner Bridge-Party hat eine Dame das Gerücht in die Welt gesetzt, man könne die Ehrlichkeit einer Putzfrau testen, indem man hier oder da kleine Aschenbecher mit ein paar Münzen darin herumstehen lässt. Ich lege immer ein paar Penny dazu, auch ein Zehncentstück. Bevor ich mit der Arbeit beginne, sehe ich zuerst nach, wo die Armbanduhren sind, die Ringe, die Handtaschen aus Goldlamé. Wenn sie später rotgesichtig und verschwollen hereingestürmt kommen, sage ich nur kühl ‚unter den Kissen‘ oder ‚hinter der avocadofarbenen Kloschüssel‘. Das Einzige, was ich tatsächlich stehle, sind Schlaftabletten, falls einer dieser dunklen Tage kommt.“

Wie gefällt es?
Dieses Buch ist eine Offenbarung. Lucia Berlin gehört in die allererste Reihe der amerikanischen Kurzgeschichtenerzähler. Sie nimmt den amerikanischen Traum auseinander, ohne ihn zu verraten.

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe, Arche Verlag, Zürich, Euro 22,99, ISBN 9783716027424



hr-iNFO Büchercheck vom 21.07.2016


Thea Dorn: Die Unglückseligen
Die Schriftstellerin Thea Dorn hat als Dozentin für Philosophie gearbeitet, Romane und Sachbücher geschrieben, Theaterstücke und Drehbücher. Jetzt gibt es wieder einen Roman von ihr: „Die Unglückseligen“.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Buch handelt von nichts Geringerem als der Unsterblichkeit. Johanna, eine junge Molekularbiologin, nutzt jede Gelegenheit, um ihr Institut in Bayern verlassen zu können und in Kalifornien zu forschen, so wie sie es in Deutschland nicht darf. Dort gabelt sie einen kauzigen Typen auf, der sich als Johann Wilhelm Ritter entpuppt. Er ist ein deutscher Physiker aus der Goethezeit, also tatsächlich rund 250 Jahre alt. Trägt er den genetischen Code zum ewigen Leben in sich? Schon nahe dem Wahn, glaubt Johanna, der Teufel müsse seine Hand im Spiel haben.

Wie ist es geschrieben?
Thea Dorn lässt in diesem Buch 250 Jahre Naturwissenschaft und Philosophie am Leser vorbeiziehen. Sie kombiniert Wissenschafts- und Fantasy-Roman, lässt den Fauststoff in einem ganz aktuellen Wissenschaftsbezug wieder aufleben. Sie erzählt in Sprachen, die drei Jahrhunderte auseinander liegen und auch noch in diversen deutschen Dialekten. Das ist spannend, verspielt, witzig.

“Wo kemma Sie jezd her? Sie Deifi! Woins, dass i vor Schreck schdeab? All seine Artigkeit musste Ritter zusammennehmen, dass er nicht stracks Fersengeld gab. Verzeihen, die Dame! Wohl achtend, dass ihm die Mütze nicht vom Kopf fiel, verneigte er sich. Nicht war es meine Absicht, Sie zu ängstigen. Warum hörte das Weib nicht auf, ihn anzufunkeln? Zu meiner Betrübnis war’s uns bislang nicht vergönnt, Bekanntschaft zu schließen, redete er weiter in der Hoffnung, der Drachen sei mit guten Worten zu besänftigen. Gestatten, dass ich selbst mich vorstell: Der Mawet Hermann bin ich. Johannas Onkel. Sollte er die Hand ihr reichen? Nicht wagte er’s, so feindselig ward er immer noch gemustert. Woins mi dablägga, oda reens oiwei so g’schwoan dahea?“

Wie gefällt es?
Ich finde, Thea Dorn hat ein tolles Buch geschrieben. Nicht jedes Detail dieser phantastischen Story überzeugt wirklich, manches ist nicht logisch. Aber ich habe einiges gelernt und mich prächtig unterhalten.

Thea Dorn: Die Unglückseligen, Knaus Verlag, München, Euro 24,99, ISBN 9783813505986



hr-iNFO Büchercheck vom 14.07.2016


David Garnett: Dame zu Fuchs
1922 ist der Roman „Lady into Fox“ erstmals erschienen. Geschrieben hat ihn der Schriftsteller David Garnett, Mitglied der legendären Londoner Bloomsbury-Intellektuellengruppe. Jetzt ist der Roman unter dem Titel „Dame zu Fuchs“ neu ins Deutsche übersetzt worden.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Buch handelt von einem englischen Gentleman, Richard Tebrick, dessen Frau Silvia sich urplötzlich in eine Füchsin verwandelt. Richard versucht mit der Füchsin ein normales Eheleben zu führen, doch ihr tierisches Wesen gewinnt immer mehr die Oberhand, bis sie eines Tages Reißaus nimmt, um im Wald eine neue Fuchsfamilie zu gründen.

Wie ist es geschrieben?
Ein Mensch, der auf unerklärliche Weise zum Tier wird, das mag den einen oder anderen an Franz Kafkas „Verwandlung“ erinnern, aber David Garnetts Roman ist viel leichter und auch witziger als Kafkas düstere Tragödie. Das liegt vor allem an dem feinen, spöttischen Ton, mit dem der Erzähler die verzweifelten Versuche des unglückseligen Mr. Tebrick schildert, seine bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen im Umgang mit der Füchsin zu behaupten, was allein schon beim gemeinsamen Mittagsessen scheitert:

“Es war nahezu bedauerlich, dass Mrs Tebrick eine absolut wohlerzogene Frau gewesen war. Hätte sie, wie die europäische Prinzessin, mit der ich einmal zu Abend gegessen habe, zur Angewohnheit gehabt, eine Hühnerkeule einfach am Knochen zu packen und das Fleisch davon abzunagen, wäre es jetzt für ihren Mann vielleicht leichter gewesen. Da ihre Essmanieren aber exzellent gewesen waren, war deren Hinfälligkeit entsprechend schmerzhaft für ihn. Demnach stand er nun da und litt stille Qualen, bis sie mit dem widerlichen Zermalmen der Knochen fertig war und auch den letzten Rest verschlungen hatte.“

Wie gefällt es?
„Dame zu Fuchs“ ist eine wunderbar skurrile Geschichte über die Fragwürdigkeit der Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Zivilisation und Wildheit.

David Garnett: Dame zu Fuchs, Dörlemann Verlag, Zürich, Euro 17,00 ISBN 9783038200260



hr-iNFO Büchercheck vom 07.07.2016


Joakim Zander: Der Bruder
Der neue Krimi des Schweden Joakim Zander mit dem Titel „Der Bruder“ handelt vom Krieg des IS in Syrien, von jungen Migrantenkindern, die sich von diesem Krieg angezogen fühlen und von Menschen, die das ausnutzen.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Schweden, ein heruntergekommener Vorort von Stockholm. Hier wachsen die arabisch-stämmigen Geschwister Yasemine und Fadi auf. Yasemine schafft schließlich den Absprung. Fadi, zurückgeblieben in der schwedischen Trabantenstadt, rebellisch, unangepasst, kleinkriminell, vermisst den Halt durch die Schwester und sucht diesen Halt schließlich im Glauben.

“Inzwischen brauche ich die Mekka-App nicht mehr, ich weiß, dass ich mich einfach nur zu den Gurken und Auberginen drehen muss. Dahinter, wenn man eine lange gerade Linie ziehen würde, liegt Mekka. Genau wie zu Hause in meinem Zimmer, dort muss ich mich nur deinem Kissen zuwenden, Schwester, oder dem, was einmal dein Kissen war, und von meiner Stirn aus führt eine lange gerade Linie nach Mekka. Jeden Tag verfluche ich, dass wir uns so bemüht haben, ein Teil von dem zu werden, wozu wir doch nie gehören werden. Dass wir das schwedische Wörterbuch auswendig gelernt und das arabische vergessen haben.“

Fadis neues Leben ist der Kampf in Syrien. Islamistische Kreise bringen ihn dorthin. Als Yasemine erfährt, dass ihr Bruder bei einem Bombenangriff getötet, dann aber doch wieder in dem Stockholmer Vorort gesehen wurde, kehrt sie nach Schweden zurück. Und dann gibt es noch Klara, eine ehemalige EU-Referentin.

Wie ist es geschrieben?
Kurze, knappe, schnelle Kapitel, jeweils aus der Perspektive von Yasemine, Fadi und Klara, treiben die Handlung voran. Wo anfangs noch kein Zusammenhang erkennbar ist, wird er nach und nach immer deutlicher.

Wie gefällt es?
Der Krimi „Der Bruder“ ist ein Buch über die Wut und die Folgen. Bitte selber lesen. Unbedingt.

Joakim Zander: Der Bruder, Rowohlt Verlag, Berlin, Euro 14,99, ISBN 9783499268892



hr-iNFO Büchercheck vom 30.06.2016


Juan Marsé: Gute Nachrichten auf Papierfliegern
„Gute Nachrichten auf Papierfliegern“ heißt ein Buch des katalanischen Schriftstellers Juan Marsé.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Bruno ist 15. Er lebt mit seiner Mutter in einem Mietshaus in Barcelona. Im 2. Stock lebt Frau Pawlikowska, genannt Frau Pauli. Sie stammt aus Polen, kam im Zuge des 2. Weltkriegs nach Spanien, arbeitete als Varietétänzerin und sitzt nun einsam in ihrer Wohnung. Sonderbar ist sie. Sie wirft Papierflieger auf die Straße. Manchmal wirft sie aber auch Lebensmittel herunter oder Gebrauchsgegenstände. Die Alte spinnt, meint Bruno. Aber seine Mutter redet ihm gut zu, Frau Pauli zu unterstützen. So kommt es, dass er nicht nur für sie einkaufen geht, sondern für ein paar Pesetas auch Zeitungen besorgt, für weitere Papierflieger. Was treibt Frau Pauli an? Das will Bruno wissen. „Träume können sehr oft fliegen“, erklärt sie Bruno. Am Ende weiß man, es sind Gestalten aus der Erinnerungswelt der Frau Pauli. Und auch Bruno ist in diese Welt gedanklich eingetaucht. Im Alter hat ihr Lebenstrauma Frau Pauli eingeholt, das Warschauer Getto, dem sie knapp entkommen ist.

Wie ist es geschrieben?
Juan Marsé hat eine tragische Geschichte geschrieben, die zugleich bezaubernd ist. Seine Sprache ist leichtfüßig, bildhaft und empfindsam, nahezu impressionistisch. Sie erzeugt flimmernde Atmosphären, zum Beispiel, als Bruno die beiden Gettojungen halluziniert.

“Bruno rieb sich abermals die Augen und musterte erneut das Bild, das die auf dem Gehsteig gefläzten Brüder boten. Selbst in dem knalligen Mittagslicht, wenn die Sonne die Straße entzündet und die Farben hervorlocken will, wirkten die beiden eintönig grau, wie zwei aus einem Schwarzweißfilm entsprungene Jungen unter dem Schattenschleier einer vorüberziehenden Wolke.“

Wie gefällt es?
Nur 90 Seiten hat diese Erzählung. Aber das hat Juan Marsé gereicht, ein komplexes und tiefgründiges Werk zu schaffen. Mich hat dieses Buch sehr berührt. Dass das Vergangene nicht vorbei ist, dass es weiter wirken kann. Dass Realität eine Frage von Wahrnehmung ist und damit zutiefst subjektiv.

Juan Marsé: Gute Nachrichten auf Papierfliegern, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin, Euro 14,90, ISBN 9783803113153



hr-iNFO Büchercheck vom 23.06.2016


Julia Kissina: Elephantinas Moskauer Jahre
Heute stellen wir Ihnen den neuen Roman von Julia Kissina vor. Er heißt „Elephantinas Moskauer Jahre“.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Elephantina beschließt, ihr Leben ganz der Kunst zu widmen und verlässt das „piefige“ Kiew, um nach Moskau zu gehen. Da ist auch schon ihr Schwarm hin, ein berühmter Dichter, der sowas wie ihr Guru wird. „Elephantinas Moskauer Jahre“ handelt von Julia Kissinas eigener Entwicklung zur Künstlerin. In den 80er Jahren gehörte sie zum Kreis der russischen Avantgarde. Sie hat kein Einkommen und zieht wie eine Nomadin von einer Freundin zur Nächsten, schläft in Treppenhäusern, Theatergarderoben und dem Puschkin-Museum. So lange, bis sie wieder rausgeworfen wird.

Wie ist es geschrieben?
Julia Kissina überzeichnet alles. Der angebetete Dichter zum Beispiel ist so rundlich und rot im Gesicht, dass Elephantina ihn nur „Tomaterich“ nennt. So entlockt sie jeder Situation, jeder Begegnung, das größtmögliche satirische Potential. Zum Beispiel, wenn die Moskauer Schriftsteller-Elite auf den Beat-Poeten Allen Ginsberg trifft.

“Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand ein rüstiger kahlköpfiger Opa, der wie ein Trainer aussah. Das Wort Ginsberg knisterte im Raum. Auf dem Gipfel des schwungvollen Gesprächs mit dem Amerikaner fragte mein Tomaterich den Buckligen, der vor Lachen fast erstickte: Verstehst du eigentlich, was die da reden? Ehrlich gesagt, ich verstehe Null. Dieser verdammte amerikanische Akzent!“

Wie gefällt es?
Ich mag den absurden Witz des Romans. Und ich mag Elephantina, diese Anarchin, die am liebsten geschlechtslos wäre und eine begnadete Poetin ist. Wenn das ginge, würde ich sie glatt bei mir einziehen lassen.

Julia Kassina: Elephantinas Moskauer Jahre, Suhrkamp Verlag, Berlin,
Euro 22,95,ISBN 9783518425329



hr-iNFO Büchercheck vom 16.06.2016


Martin Schult: Flokati oder mein Sommer mit Schmidt
Martin Schult arbeitet hauptberuflich für den Börsenverein des deutschen Buchhandels. Jetzt hat der 49-jährige seinen ersten Roman veröffentlicht: „Flokati - oder mein Sommer mit Schmidt“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Sommer 1974, das ist der Sommer, als Deutschland zum zweiten Mal Fußballweltmeister wurde, und es ist der Sommer, in dem die Welt des 12-jährigen Paul aus den Fugen gerät. Da sind seine Eltern, der Vater Friseur im Frankfurter Westend und begeisterter Fußballfan, die Mutter linke Universitätsdozentin und politisierte RAF-Sympathisantin. Da fliegen schon mal die Fetzen, vorzugsweise auf dem familieneigenen Flokati-Teppich. Dazu kommt die schlimme Schuld, die Paul selbst auf sich geladen hat. Und dann ist da Arno Schmidt, der deutsche Schriftsteller, den Paul für sich entdeckt.

Wie ist es geschrieben?
Der Spielplan der WM 74 ist sozusagen der Spielplan dieses Romans. Die einzelnen Kapitel sind mit den Namen der Gegner der bundesdeutschen Mannschaft überschrieben. Aber das WM-Geschehen ist nur eine Handlungsachse. Und wenn es dann wieder um Fußball geht, dann geschieht das aus der ganz eigenen Perspektive dieses 12-jährigen, der sich eher für skurrile Details als für Taktik und Ergebnisse interessiert:

“Mit den Haaren von Wolfgang Overath könnte man ein ganzes Kopfkissen füllen. Jetzt, im Dauerregen, lag sein Haar gegen alle Gesetze der Natur nicht feucht und platt, sondern dermaßen aufgebauscht, dass er aussah wie eine nassgewordene Pusteblume.“

Wie gefällt es?
Martin Schult erzählt unangestrengt von den Verwirrungen der Pubertät und zeichnet gleichzeitig ein sehr lebendiges Bild der immer noch jungen Bundesrepublik. Das ist gut konstruiert, hat viel Witz und noch mehr 74er Gefühl. Ich habe mich sehr gerne in diesen Sommer zurückgesetzt gefühlt, der für mich, ganz ähnlich wie für Paul, das erste bewusst erlebte Sommermärchen war.

Martin Schult: Flokati oder mein Sommer mit Schmidt, Ullstein Verlage, Berlin, Euro 18,00,  ISBN 9783550081316



hr-iNFO Büchercheck vom 09.06.2016


„Bella Mia“ von Donatella di Pietrantonio
Bella mia – so heißt ein italienisches Volkslied, in dem die Stadt L´Aquila in den Abruzzen besungen wird. Sie war wohl eine Schönheit, bis im April 2009 ein Erdbeben sie größtenteils zerstörte. Mehr als 300 Bewohner starben. Noch immer leben Menschen dort in Übergangsunterkünften.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Caterina, eine Keramikerin, ihre Mutter und Marco, ihr Neffe, haben das Erdbeben überlebt. Ihre Zwillingsschwester Olivia, die Mutter Marcos, wurde von den Trümmern erschlagen. Sie leben am Limit. In einem seelenlosen und billig zusammengeschusterten Zweckbau. Die Drei warten auf den Wiederaufbau ihrer Wohnungen, auf das Verblassen ihrer Traumata und kommen doch nicht los. Immer wieder schleichen sie sich in die verbotene Zone der zerstörten Stadt und suchen ihre Wohnungen auf. Um sie herum leben die anderen Opfer. Eine Litanei des Grauens.

„Es schneit feine, wirbelnde, leichte Flocken, die sich nur widerstrebend auf der schon geschlossenen Schneedecke niederlassen. Zur Vorsicht gehe ich dort, wo noch niemand vorbeigekommen ist; meine Schritte klingen wie auf Styropor. Eine kurze Rast an der Kirche von San Pietro, so nah, wie die Stützbalken es gestatten.“

Wie ist es geschrieben?
Donatella di Pietrantonio erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive Caterinas. In ihrem Handeln, Denken und Empfinden bündeln sich die Schicksale und Ereignisse. In Rückblenden und Gegenwartsbeschreibungen vermittelt sich die Trauer, aber auch die Hoffnung.

Wie gefällt es?
Für mich ist „Bella mia“ eine Entdeckung.  Der Roman handelt von traumatischen Erlebnissen und heftigen Verlusten. Die Trauer muss bewältigt werden. Aber er berichtet auch davon, dass es gelingt. Dass das Leben nicht nur weiter geht, sondern neu gestaltet werden kann. Und das alles erzählt di Pietrantonio in einer wunderbaren Sprache, sanft und eindrücklich.

Donatella di Pietrantonio: „Bella Mia“, Verlag Antje Kunstmann, 18,95 Euro, ISBN-13: 978-3956140914



hr-iNFO Büchercheck vom 02.06.2016    


Louise Welch: V5N6 Tödliches Fieber
London ist der Schauplatz des Kriminalromans „V5N6 Tödliches Fieber“ von Louise Welsh. Eine Stadt, die aus den Fugen gerät durch Randalierer, Amokläufer aber vor allem durch ein Virus, das immer mehr Menschen tötet.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Es ist heiß und stickig. Stevies Freund Simon hat sie versetzt und reagiert nicht auf ihre Anrufe. Sie ist sauer und will ihre Sachen aus seiner Wohnung holen. Dann der Schock. Stevie findet in seinem Bett seine stinkende Leiche. Die Polizei hakt den Fall schnell ab, doch Stevie setzt alles daran, den vermuteten Mord an ihrem Freund aufzuklären.

Wie ist es geschrieben?
Louise Welsh hat einen intelligenten, literarisch anspruchsvollen Krimi geschrieben. Die britische Hauptstadt, in der die Menschen nach der Infektion innerhalb weniger Stunden zu Tausenden sterben, bietet eine bizarre Kulisse für Stevies Suche nach der Wahrheit. Und so ordnet ein Freund die verzweifelte Lage ein:

“Was ist ein Todesfall verglichen mit Tausenden? Eine Tragödie für Familie und Freunde, natürlich, aber es ist, wie ich dir gesagt habe. Wir sind im Krieg. Da gelten andere Regeln. Vielleicht können wir nicht verhindern, dass sich das Fieber weiter ausbreitet, aber wir können unser Bestes tun, um für Ordnung zu sorgen. Tu dir einen Gefallen und fahre nach Hause, solange es noch hell ist. Du weißt, wie London ist, ein verdammter Dampfdrucktopf. Polizei und Feuerwehr sind unterbesetzt, und es hat dreißig Grad im Schatten. So schnell kannst du gar nicht schauen, und die Muslimbruderschaft und die English Defence League stacheln sich wieder gegenseitig auf, ganz zu schweigen von all den anderen Durchgeknallten, die bei schönem Wetter gerne aus ihren Löchern kommen. Heute Nacht könnte so eine von den Nächten werden, in der sich der Druck entlädt.“

Wie gefällt es?
„V5N6 Tödliches Fieber“ ist ein rasanter Thriller, Wissenschaftskrimi und Apokalypse-Roman. Ich konnte das Buch nur schwer aus der Hand legen.

Louise Welch: V5N6 Tödliches Fieber, Verlag Antje Kunstmann, München,
Euro 19,95, ISBN 9783956140907



hr-iNFO Büchercheck vom 25.05.2016    


„ Die Gestrandete“ von Alexander Maksik
Die Themen Flucht, Vertreibung und Intergration sind nicht nur mitten in unserer Gesellschaft, sondern auch in der deutschen Literatur angekommen. Nun kommt aus den USA ein Roman mit dem Titel „Die Gestrandete“, sein Autor heißt Alexander Maksik.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Gestrandet ist Alexander Maksiks Jacqueline auf der griechischen Insel Santorin. Sie ist 23 Jahre alt und  kommt aus dem westafrikanischen Liberia, einem Land, das jahrelang unter dem grauenhaften Terrorregime von Charles Taylor und einem Bürgerkrieg gelitten hat. Und wir begleiten diese starke junge Frau, die ein schreckliches Trauma mit sich herumschleppt, über ein paar Wochen hinweg.

„Das Sonnenlicht war ein blass orangefarbenes, über die Insel gespanntes Spinnennetz. Die Schönheit des Ausblicks war unvermeidlich. Die unermessliche Weite. Die Sonne wechselte die Form, als sie ins Wasser tauchte, zog sich zusammen und verbreiterte sich. Santa Irene strahlte, stand in Flammen. Die fernen Inseln waren erschaudernde Silhouetten, lila, schwarz und unendlich..“

Wie ist es geschrieben?
Es ist, trotz seines traurigen Themas, ein sehr schönes und positives Buch. Geschrieben in einer ganz einfachen Sprache. Einfach nicht im Sinne von simpel oder naiv. Sondern im Sinn von konzentriert, von reduziert auf das Wichtige. Wir beobachten fast in Echt-Zeit, was Jacqueline tut.

Wie gefällt es?
Mich hat dieser Roman tief beeindruckt! Das Ende bleibt offen. Dafür erfahren wir am Schluss des Romans den Anfang von Jacquelines Flucht-Geschichte. Ihr Vater war Minister unter Charles Taylor und  ihre Familie – auch die schwangere Schwester – wurden im eigenen Haus von Rebellen abgeschlachtet. Und das ist eine so schreckliche Szene, dass ich fast nicht weiter gelesen hätte. Die aber wichtig ist, weil sie Jacquelines Trauma– und damit das Trauma vieler Flüchtlinge – sichtbar macht, begreifbar macht.

Alexander Maksik: Die Gestrandete. Roman, Droemer/Knaur, München 2016. 286 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 9783426199749



hr-iNFO Büchercheck vom 19.05.2016    


Corinna T. Sievers: Die Halbwertszeit der Liebe
Die Autorin Corinna T. Sievers ist Kieferorthopädin. Darüber hinaus schreibt sie Bücher. In denen geht es immer um Sexualität, auch um Gewalt und um die Liebe.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Margarete ist Mitte 40, erfolgreiche Fachärztin für plastische Chirurgie. Sie hat Geld, keine Kinder, von ihrem Mann ist sie getrennt. Sie hält sich für körperlich abstoßend, ist offensichtlich magersüchtig und sie empfindet nichts beim Sex. Aber sie sucht die Liebe, wünscht sich sogar Kinder. Eigentlich hat Margarete einen genauen Plan. Sieht sie einen Mann, nimmt sie Maß. Sie analysiert genau, wie viel Fett man ihm absaugen müsste und vielleicht zur Stärkung seines Penis verwenden könnte. Dann trifft sie auf einem Fachkongress Hans Heinrich und beschließt, ihn zu lieben

Wie ist es geschrieben?
Corinna Sievers erzählt die Geschichte konsequent aus Margaretes Perspektive. Die Beschädigungen und Brüche dieser Person werden so besonders deutlich, wie bei Werten in einer Laboranalyse.

“Sie haben Bäuche, eine Fettabsaugung könnte Abhilfe schaffen, ich schätze das Volumen des abzusaugenden Gewebes; im Fall des rechts Stehenden ein knapper Liter, links einskommafünf, der Mittlere leidet an schwerer Fettleibigkeit, zweikommafünf. Für den Eingriff verwende ich ausschließlich manuell bediente Saugspritzen, der degressive Sog ermöglicht gewebeschonendes Arbeiten, Gleiches gilt für den Gebrauch von Mikrokanülen (Durchmesser ein bis zwei Milimeter statt üblicherweise drei bis acht). Zwingend ist ihr Einsatz, wenn das abgesaugte Material zum Fetttransfer verwendet wird, üblicher Empfängerort: das männliche Glied.“

Wie gefällt es?
Zwei professionell degenerierte und psychisch lädierte Mediziner suchen den Kick. Irgendwann wurde mir das bizarre sexuelle Gedöns zu langweilig, die Story zu konstruiert und überzogen, die Figuren fast zu Karikaturen. Es bleibt allerdings die Sprache von Corinna Sievers. Das ist ein eigener Ton.

Corinna T. Sievers: Die Halbwertszeit der Liebe, Frankfurter Verlagsanstalt, Euro 22,00, ISBN 9783627002251



hr-iNFO Büchercheck vom 12.05.2016    


Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran
Shida Bazyar wurde 1988 in Deutschland geboren, als Tochter von Immigranten aus dem Iran. Sie studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim und zog dann nach Berlin. „Nachts ist es leise in Teheran“ ist ihr erster Roman. Er speist sich aus ihrer eigenen Familiengeschichte, aber autobiographisch ist er deshalb nicht.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Shida Bazyar erzählt von einer iranischen Familie, die 1986 auf der Flucht vor dem Khomeini-Regime nach Deutschland kam. Der Vater war dort Oppositioneller, doch die Lage wurde irgendwann unerträglich. Wir lesen von der Ankunft in Deutschland, von den endlosen Behördengängen der Eltern, den fehlenden Jobs, dem Versuch, sich zu integrieren und doch seinen Wurzeln treu zu bleiben. Und dann von den drei Kindern und ihrer Integration in deutschen Schulen, Unis, Freundeskreisen.

Wie ist es geschrieben?
Interessant ist, wie Shida Bazyar ihren Roman strukturiert hat: chronologisch, in fünf Kapiteln, die im Zehn-Jahres-Abstand spielen. Es erzählt jeweils ein anderer Protagonist. Der Vater zum Beispiel kommt nie mehr los von seinen Jahren im Untergrund.

“Das Evin-Gefängnis, der Ort, an dem wir all die Jahre im Kampf gegen die Monarchie unsere Schwestern und Brüder verloren, eigentlich ein Ort, der nie ein Ort war, sondern eine Parallelwelt, eine Parallelhölle, wer rauskam, erzählte nicht, was drinnen passiert war, wer rauskam, hatte drinnen erzählt, und das war fast das Unheimlichste daran. Das Evin-Gefängnis, ein Ort, der Menschen frisst, fast ein Ort, zu oft besprochen, um wahr zu sein.“

Wie gefällt es?
Ich habe Shida Bazyars Roman „Nachts ist es leise in Teheran“ gerne gelesen, weil er literarisch sehr ansprechend ist. So schrecklich viele Flüchtlings-Schicksale auch sind, mit ihnen kommen viele neue Erzählmuster und Erzähltraditionen nach Deutschland.

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln,
Euro 19,99, ISBN 9783462048919



hr-iNFO Büchercheck vom 05.05.2016    


Michael Lüders: Never say anything
Der Nahost-Experte Michael Lüders hat einen Krimi geschrieben mit dem Titel „Never say anything“, kurz NSA.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Polit-Krimi gelesen.
Worum geht es?
Die deutsche Journalistin Sophie Schelling fliegt für eine Reportage nach Marokko. Mitten in der Wüste wird sie Augenzeugin eines Drohnenangriffs. Ein ganzes Dorf wird unter Beschuss genommen.

“Auf der Straße lagen regungslose Körper. Vereinzelt fielen Schüsse. Sophie robbte auf allen vieren, um nicht ins Blickfeld zu geraten. Dabei beobachtete sie, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Auf dem Boden lagen tote Frauen. Darüber hatten sich zwei Soldaten gebeugt. Fluchend unternahmen sie, was sich Sophie nicht sofort erschloss. Dann aber verstand sie, was sie taten. Mit einem Messer entfernten sie die Kugeln aus den Leichen. Fast hätte sie aufgeschrien. Mein Gott, das waren Profis. Bäuerinnen, von amerikanischen Kugeln durchsiebt, keine gute Werbung.“

Sophie Schelling überlebt als einzige diesen Angriff, wird schwer verletzt gerettet und von Unbekannten zur deutschen Botschaft gebracht. Das Massaker hat bereits weltweit Schlagzeilen gemacht und wird algerischen Islamisten zugeschrieben. Doch Sophie Schelling ist sich sicher, an einem Raketen-Überrest amerikanische Aufschriften gesehen zu haben.

Wie ist es geschrieben?
Michael Lüders ist kein Literat, aber er kann schreiben. Mit Hilfe der Kriminalhandlung will Lüders darauf aufmerksam machen, was westliche Politik im Nahen Osten anrichten kann.

Wie gefällt es?
Ich habe mir beim Lesen häufiger gewünscht, dass das doch alles nur erfunden sei, Fiktion. Aber der Autor Michael Lüders kennt sich aus, und so steht zu befürchten, dass ein Fall wie das Massaker in der marokkanischen Wüste so oder so ähnlich tatsächlich passiert sein kann.

Michael Lüders: Never say anything, C. H. Beck Verlag, München, Euro 14,95, ISBN 9783406688928



hr-iNFO Büchercheck vom 28.04.2016    


David Grossmann: Kommt ein Pferd in die Bar
Der israelische Schriftsteller David Grossman, Jahrgang 54, hat einen neuen Roman veröffentlicht. Er trägt den merkwürdigen Titel „Kommt ein Pferd in die Bar.“

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Der Roman handelt von einem Auftritt des Stand-Up-Comedian
Dovele Grinstein in der israelischen Küstenstadt Natanja. Er ist in die Jahre gekommen und wahrscheinlich todkrank. Der Abend, den wir hier erleben, könnte seine Abschiedsvorstellung sein. Sein Programm wird immer mehr zu einer Reise in die eigene Geschichte, seine persönliche Tragödie.

Wie ist es geschrieben?
Erzählt wird das Ganze aus der Sicht eines pensionierten Richters, der im Publikum sitzt. Er ist ein Freund aus Kindertagen, der Dovele Grinstein damals in einer entscheidenden Situation im Stich gelassen hat. Grinstein hat ihn extra zu dieser Vorstellung eingeladen. Ein ums andere Mal geht er bis an die Grenze des Erträglichen, etwa, wenn er seine Witze über den Auschwitz-Arzt Josef Mengele macht:

“Also, ich möchte mal sagen, auf gewisse Weise war der für uns, was man einen family doctor nennt. Kann man doch so sehen, oder? Er klimpert treuherzig mit den Lidern in Richtung Publikum, das sich immer mehr verkrampft. Schon mal überlegt, wie viel der zu tun hatte, dieser Doktor? Sie sind ja aus ganz Europa zum ihm gereist, die sind in den Zügen übereinander geklettert, um zu ihm zu kommen, und trotzdem hat er sich Zeit genommen, sich jeden Einzelnen von uns genau anzusehen. Bloß eine zweite Meinung einholen, durften wir nicht, unter keinen Umständen. Allein sein Wort galt! Und das Gespräch war kurz: Rechts, links, links, links, links.“

Wie gefällt es?
Gerade weil dieser Roman sich ganz konsequent auf diesen einen Abend an diesem einen Ort konzentriert, entwickelt er eine ungeheure Sogwirkung. Er zwingt uns immer wieder zur Entscheidung, ob wir noch mit der Hauptfigur lachen dürfen oder uns schon über sie empören müssen. Genau solche Fragen stellt große, riskante Literatur, und dieser Roman ist für mich ein ganz großer.

David Grossmann: Kommt ein Pferd in die Bar, Hanser Verlag, München,
Euro 19,90, ISBN 9783446250505


hr-iNFO Büchercheck vom 21.04.2016    


Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter
Madrid im Sommer 2012: Anita, Mitte Zwanzig, lebt wieder im Kinderzimmer bei ihren Eltern. So wie viele ihrer Freunde. Sie haben keine Arbeit, kein Geld und keine Hoffnung. Also ein Gesellschaftsroman zur Eurokrise? Nein, das ist nur die Kulisse.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Im Grunde geht es in „Das Kleid meiner Mutter“ darum, dass Anita ihre Eltern eines Tages tot im Bett findet und ihr ihre unbändige Vorstellungskraft dabei hilft, dieses einschneidende Erlebnis zu bewältigen.

“Natürlich roch es im Schlafzimmer nicht nach Verwesung. Die Eltern waren tatsächlich da. Sie saßen immer noch auf den beiden Sesseln am Fenster. Anzug und Kleid schlotterten ihnen um die Glieder. Die Hände meines Vaters waren in seinen Manschetten verschwunden, unter dem geblümten Rock meiner Mutter lugten nur die Schuhspitzen hervor, nicht mehr, wie gestern noch, die nackten Knie. Kein Fuß berührte den Boden. Alles an ihnen war kleiner geworden, über Nacht geschrumpft.“

Alles scheint möglich in Anitas bunt schillernder Gegenwelt. Aber dann entdeckt sie, dass ihre Mutter eine Affäre mit einem geheimnisvollen deutschen Schriftsteller hatte.

Wie ist es geschrieben?
Fantasievoll, anrührend, witzig und spannend. Die junge Ich-Erzählerin erzählt flapsig und direkt.

Wie gefällt es?
So gut mir „Das Kleid meiner Mutter“ gefällt, leider will Anna Katharina Hahn zu viel auf einmal. Sie überfrachtet den Roman mit der Nazi-Geschichte des Schriftstellers und der Frage nach der deutschen Schuld. Trotzdem habe ich das Buch an zwei Tagen hintereinander durchgelesen.

Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter, Suhrkamp Verlag,
Berlin, Euro 21,95,ISBN 9783518425169


hr-iNFO Büchercheck vom 14.04.2016    


Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit
Benedict Wells ist 31 Jahre alt und schon ein sehr erfolgreicher Autor. Sein neuester Roman, „Vom Ende der Einsamkeit“, ist wieder unter den Top Ten der Bestseller.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Jules wächst behütet und glücklich auf, bis seine Eltern bei einem Autounfall sterben. Da ist er gerade zehn. Jules landet mit seinem älteren Bruder und seiner älteren Schwester in einem Internat und verliert dort den Kontakt zu seinen Geschwistern. Die Einsamkeit, die er verspürt, nimmt ihm den Elan. Wäre da nicht die Mitschülerin Alva. Leider kein happy end. Denn Alva stirbt an Krebs, und Jules fährt mit dem Motorrad gegen einen Baum. Im letzten Moment denkt er an seine Kinder und reißt das Steuer noch herum. Im Krankenhaus läuft dann der Film seines Lebens nochmal ab, in Rückblenden erfahren wir davon.

“Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall.“

Wie ist es geschrieben?
Man könnte verzweifeln an Jules Lebenserfahrungen. Trotzdem ist „Das Ende der Einsamkeit“ auch heiter und fesselnd. Das liegt an der Konstruktion des Rückblicks, der immer wieder von Jules Gegenwart durchbrochen wird. Im Leid schimmern Strahlen des Glücks durch, auch wenn es nicht dauerhaft ist.

Wie gefällt es?
Das Leben geht weiter, mal so, mal so. Man kann sich gut mit diesen Figuren identifizieren. Am Ende birgt dieser Roman viel Trost und auch Hoffnung. Seine Botschaft: Auch wenn der Tod jederzeit anklopfen kann, bis dahin haben wir das Leben in der Hand.

Benedict Wells: Das Ende der Einsamkeit, Diogenes Verlag, Zürich,
Euro 22,00 ISBN 9783257069587



hr-iNFO Büchercheck vom 07.04.2016    


Olen Steinhauer: Der Anruf
Der neue Kriminalroman des US- Amerikaners Olen Steinhauer mit dem Titel „Der Anruf“ führt uns mitten hinein in die Welt der Geheimdienste und der Terroranschläge.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Flughafen Wien im Jahr 2006: Terroristen haben ein Flugzeug mit 210 Menschen gekapert und fordern die Freilassung von Gesinnungsgenossen. Zufällig sitzt ein Kurier der CIA  in der Maschine und versorgt  sein Geheimdienstbüro in Wien mit Informationen über die Lage im Flugzeug. Ein Anruf von diesem CIA- Büro mit einem führenden Terroristen entarnt den Kurier. Die Terroristen töten alle 210 Insassen des Flugzeugs. Jahre später soll der CIA-Agent Henry Pelham, damals an der Aktion beteiligt, die letzten Zweifel an dem Drama in Wien ausräumen. Er fährt zu seiner damaligen Kollegin Celia, mit der er in Wien eine Liebesbeziehung hatte.

Wie ist es geschrieben?
„Der Anruf“ ist in weiten Teilen ein Kammerspiel. Ein Restaurant, zwei Menschen, ein langes Gespräch. Es entspinnt sich ein packendes, wechselseitiges Verhör.

“Ungeduldig winke ich ab: Celia, ich möchte ganz ehrlich sein. Das sieht überhaupt nicht gut aus. Alle wissen, dass das Büro an diesem Tag nur von zwei Leuten benutzt wurde. Von Bill und von dir. Und die Tatsache, dass du deine Erkenntnisse verschwiegen hast, spricht nicht unbedingt für dich. Du musst mir einen Grund nennen, einen guten, plausiblen Grund, weshalb du die Beweise vor uns allen versteckt hast.
Ihr stehen Tränen in den Augen, doch sie hält sie zurück. Auch die Arme hat sie abwehrend verschränkt. Weil sie nicht antworten will, fahre ich fort: Für Interpol kämen da nur zwei Möglichkeiten infrage, A) du wolltest Bill schützen, den du wie einen Vater geliebt hast, B) du wolltest dich selber schützen. Also, Cee, was trifft zu? A oder B?“

Wie gefällt es?
„Der Anruf“ von Olen Steinhauer ist ein Buch, das mich völlig in Beschlag genommen hat. Eine irre Geschichte, eine spannende Erzählung, ein realistisches Setting. Extrem empfehlenswert.

Olen Steinhauer: Der Anruf, Blessing Verlag, München, Euro 19,99, ISBN 9783896675545



hr-iNFO Büchercheck vom 31.03.2016    


Michael Kumpfmüller: Die Erziehung des Mannes
Michael Kumpfmüller, 1961 in München geboren, arbeitete erst als Journalist, bevor er begann, Romane zu schreiben. Sein neues Buch
„Die Erziehung des Mannes“ könnte man als Erziehungs- oder Entwicklungsroman bezeichnen.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Georg heißt der Erzähler. Am Anfang des Buches ist er Mitte zwanzig, am Schluss um die sechzig Jahre alt. Georg ist Komponist und erzählt uns sein Leben. Von der Kindheit, in der er fürchterlich unter seinem autoritären Vater gelitten hat, bis ins Alter, wo er mit seiner Jugendliebe zusammen gezogen ist und ein erfülltes, zufriedenes Leben führt.

Wie ist es geschrieben?
Georg erzählt in der Ich-Form, in einem kühlen und klaren Ton, manchmal direkt ein wenig spröde. Wir erfahren unzählige Episoden und Erlebnisse aus seinem Leben, vieles wird fast bürokratisch-präzise registriert. Wobei es Kumpfmüller auch immer wieder gelingt, seinen Figuren in messerscharfen Sätzen die Maske abzureißen. Dem Vater zum Beispiel:

“Manchmal hasste ich ihn. Wahrscheinlich meinte er es noch gut, wenn er meine Mutter wochenlang keines Blickes würdigte oder zu seinen Geliebten ging und bei nächster Gelegenheit vor Dritten so tat, als sei er der allerglücklichste Familienmensch. Dabei waren wir nur Staffage für die seit Jahren selbe Inszenierung, mit der er sich vor allen versteckte, seine Müdigkeiten, seine Angst zu scheitern, seine Unersättlichkeit.“

Wie gefällt es?
Mich hat Michael Kumpfmüllers „Die Erziehung des Mannes“ nicht so fasziniert wie seine früheren Romane. Ich hätte so gerne mehr Tiefenstrukturen und gegenläufige Stimmen entdeckt.

Michael Kumpfmüller: Die Erziehung des Mannes,
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, Euro 19,99, ISBN 9783462044812


hr-iNFO Büchercheck vom 17.03.2016    


Heinz Strunk: Der goldene Handschuh
Mit seinem neuen Roman „Der goldene Handschuh“ steht Heinz Strunk
auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Fritz Honkas Bild geht 1975 durch alle Medien. Vier Frauen hat er  ermordet und zerstückelt, die Leichenteile in seiner Wohnung aufbewahrt. Honka hat seine Opfer in den 70er Jahren im Hamburger Sankt-Pauli-Viertel gefunden, in der Kiezkneipe „Der goldene Handschuh“: alte, kaputte, unansehnliche Frauen, Gelegenheits-Prostituierte. Dieser Schattenwelt Sankt-Paulis, stellt Strunk die fiktive Reederfamilie von Dohren gegenüber, aber auch dort regieren Sex-Exzesse, Alkohol und Gewalt.

Wie ist es geschrieben?
Für diesen Roman braucht man ein sehr dickes Fell! Es wimmelt von Gossen-Sprache, Kraftausdrücken und triefenden Körperflüssigkeiten. Den Figuren bleibt bei allem Elend ihrer Existenz die fast schon rührende Sehnsucht nach ein bisschen Glück und Zuneigung. Auch Fritz „Fiete“ Honka.

“Im ‚Handschuh‘ kann man gut Frauen kennen lernen. Wählerisch darf Fiete nicht sein, zerprügelt, zerschunden und zermörsert, wie er ist. Seit er denken kann, hatte er Ältere, richtige Omas teilweise. Ihm ist das mittlerweile egal, er würde zur Not auch eine mit Amputation nehmen oder mit drei Arschlöchern. Ihm ist elend zumute, er fühlt sich einsam. In der Musiktruhe läuft ‚Es geht eine Träne auf Reisen‘ von Salvatore Adamo, Fietes Lieblingslied.“

Dieser Roman ist eine Zumutung im besten Sinne. Er führt einen an den Rand des Auszuhaltenden.

Wie gefällt es?
Der Roman zeichnet ein so abstoßendes, wie einfühlsames Porträt des Frauenmörders Fritz Honka. Ich habe dieses Buch nicht gerne gelesen, aber ich konnte nicht damit aufhören.

Heinz Strunk: Der goldene Handschuh, Rowohlt Verlag,
Hamburg, Euro 19,95, ISBN 9783498064365


hr-iNFO Büchercheck vom 10.03.2016    


Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh ist eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen der vergangenen 15 Jahre. Gerade ist ihr jüngster Roman erschienen. Er heißt „Unterleuten“.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Juli Zeh präsentiert ein Dorf auf dem platten Brandenburger Land als augenscheinliche Idylle und gleichzeitig als Hölle. Die Menschen, die dort leben, bekriegen und hassen sich zum Teil schon seit Jahrzehnten. Das könnte immer so weiter gehen, wenn nicht neue, junge Leute ins Dorf kämen. Der Bürgermeister, der immer wieder versucht, vernünftige Lösungen für seine Gemeinde zu finden, hat für die Untiefen einen klaren Blick.

„Er hielt nichts davon, den Dorforganismus mit der toxischen Frage nach Schuld oder Unschuld zu vergiften. Lieber wollte er die Gegenwart als ein Material behandeln, aus dem sich etwas Schönes formen ließ. Seiner Erfahrung nach wurden die schlimmsten Übel auf der Welt nicht durch böse Menschen bewirkt. Von denen gab es in Wahrheit erstaunlich wenige. Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade.“

Als ein Windpark gebaut werden soll und viele davon profitieren wollen, bricht das fragile und morsche Regelsystem aus alten Abhängigkeiten und gegenseitigen Gefallen zusammen.

Wie ist es geschrieben?
Juli Zeh erzählt ihre Geschichte aus den Perspektiven ihrer Protagonisten. In jedem Kapitel wechselt sie. Immer wieder ragen aus dem Erzählfluss bedeutungstragende Sätze heraus, die bündeln, was Zeh an gesellschaftlicher Analyse transportieren will.

Wie gefällt es?
Juli Zeh ist ein spannender, kritischer und kluger Roman gelungen. Er steht mitten drin in unserer Gegenwart und bringt so manches Phänomen unserer Zeit auf den Punkt. Auch wenn Flüchtlinge noch keine Rolle spielen, wer Unterleuten gelesen hat, kann sich denken, warum unsere Gesellschaft von der Spaltung bedroht ist. Eine Lösung bietet der Roman damit aber noch nicht an.

Juli Zeh: Unterleuten, Luchterhand Verlag, München, Euro 24,99, ISBN 9783630874876

hr-iNFO Büchercheck vom 03.03.2016    


Andreas Pflüger: Endgültig
Eine junge, blinde BKA-Ermittlerin steht im Mittelpunkt des Krimis „Endgültig“ von Andreas Pflüger. Der Autor ist bislang vor allem durch seine Tätigkeit als Drehbuchautor bekannt, so auch etlicher ARD-Tatorte.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Seit fünf Jahren ist Jenny Aaron blind. Seitdem hat sie alles dafür getan, die fehlende Sehkraft durch andere Fähigkeiten auszugleichen. Nun wird sie nach Berlin gerufen. Ein inhaftierter Frauenmörder hat die Anstaltspsychologin ermordet und will ausschließlich mit ihr sprechen. Da spielt plötzlich ein alter, für die Ermittlerin traumatischer Fall, wieder eine Rolle. Vor fünf Jahren, bei einem Einsatz in Barcelona, ist einiges schiefgelaufen.

Wie ist es geschrieben?
Hochkonzentriert, dicht und spannend, vor allem die Personenzeichnung gelingt Andreas Pflüger fast genial. Schnell ist man drin in dem Team der Berliner Elite-Polizisten, die die Kollegen besser kennen als ihre eigene Familie und die füreinander einstehen.

„Die Kopfschmerzen werden stärker. Aaron spürt, dass Pavlik Worte abwägt und verwirft. Was er ihr sagen will, muss bedeutsam sein, denn er ist ein Mann, der sich darauf versteht, etwas auf den Punkt zu bringen. In Barcelona fragte er nur, wann sie wieder anfängt. Sie schnippt den Zigarettenstummel weg: Okay, was ist? Pavlik schaut an ihr vorbei, atmet flach: Sascha Holm ist vor einem Monat nach Tegel verlegt worden. Sie hat in ihrem Leben zwei wirklich schlimme Sätze gehört: Ich bin’s, Butz Und: Eine Operation macht keinen Sinn. Dies war der dritte.“

Wie gefällt es?
„Endgültig“ von Andreas Pflüger ist ein genialer Krimi für alle, die es lieben, wenn die Spannung langsam steigt, und die außerdem auch sprachlich nicht verdursten wollen. Geradezu ans Herz gewachsen ist mir die blinde Ermittlerin mit ihren fast übermenschlichen Kräften.

Andreas Pflüger: Endgültig, Suhrkamp Verlag, Berlin, Euro 19,95, ISBN 9783518425213



hr-iNFO Büchercheck vom 25.02.2016    


Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt
Der schwarze Journalist Ta-Nehisi Coates hat seinem Sohn einen Brief geschrieben, in dem er den Jungen darauf vorbereitet, was es heißt, in den USA als Schwarzer zu leben. Der Brief ist nun als Buch in deutscher Übersetzung erschienen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Coates zieht ein Resümee ohne Vergebung, auch ohne Hoffnung. Die Weißen haben die Schwarzen ausgebeutet und damit die Grundlage gelegt nicht nur für ihren Reichtum, auch für ihren Staat, ihre Demokratie und ihr Überlegenheitsgefühl.

„Amerikaner glauben an Rasse als fest umrissenes, naturgegebenes Merkmal unserer Welt. Rassismus, das Bedürfnis, Menschen bis ins Mark zu kategorisieren und daraufhin zu demütigen, zu reduzieren und zu vernichten, wäre demnach eine unvermeidliche Folge dieser unabänderlichen Gegebenheit. Doch Rasse ist das Kind des Rassismus, nicht seine Mutter. Und die Definition eines Volkes hatte nie etwas mit Abstammung und Physiognomie zu tun, sonder immer mit Hierarchie.“

In einem Artikel, der neben dem Brief auch in diesem Buch enthalten ist, fordert er Reparationen des Staates an die Schwarzen. Seine Botschaft an seinen Sohn ist ernüchternd: Es bleibe den Schwarzen, zumindest in den USA, nur der tägliche Kampf, mit Stolz ihren Körper zu retten.

Wie ist es geschrieben?
Schon mit der Form seines Textes, ein Brief an sein Kind, gibt
Ta-Nehisi Coates seinem Thema eine packende Subjektivität und Dringlichkeit. Seine Sprache ist immer wieder pathetisch und verleiht dem Text noch mehr Wucht.

Wie gefällt es?
Ta-Nehisi Coates hat mich mit diesem Buch aufgerüttelt. Coates Pathos, wenn er zum Beispiel vom schönen schwarzen Körper schwärmt, hat mich auch befremdet. Seine Gefühle angesichts seiner Ohnmacht gegenüber den Behörden wiederum haben mich fassungslos gemacht.

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt, Hanser Berlin, Euro 19,90, ISBN 9783446251076


hr-iNFO Büchercheck vom 18.02.2016    


Karen Duve: Macht
Karen Duve, Jahrgang 1961, ist eine ebenso erfolgreiche wie streitbare Autorin. „Macht“ heißt ihr neuester Roman.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
„Macht“ ist eine ziemlich düstere Zukunftsvision. Deutschland im Jahr 2031: Die Klimakatastrophe hat voll zugeschlagen. Politik und Wirtschaft sind machtlos. Die Regierung wird mittlerweile von Frauen dominiert, der Feminismus ist zur Staatsdoktrin geworden. Männer haben sich angepasst, sind in islamische Staaten emigriert oder leisten Widerstand. Dies tut auf seine Weise auch die Hauptfigur des Romans Sebastian Bürger. Seit zwei Jahren hat er seine Frau, die Ministerin für Umwelt und Naturschutz, im eigens dafür hergerichteten Keller eingesperrt. Er foltert, vergewaltigt, demütigt sie aus Rache für die vermeintliche Verletzung seines männlichen Stolzes.

Wie ist es geschrieben?
Karen Duve erzählt so schnörkellos und lakonisch, dass einem beim Lesen mulmig werden kann:

„Ich lasse sie dicht an die Wand treten, dorthin, wo ich drei Metallringe mit Karabinerhaken ins Mauerwerk gedübelt habe, einen in Kniehöhe, einen in Schulterhöhe und einen über Kopfhöhe, und hake die Kette, die an Christines Halsband befestigt ist, so straff wie möglich in den mittleren. Ich weiß, das klingt jetzt alles ganz furchtbar, Kette und Halsband. Da denkt man leicht an Inquisition oder SM-Studio, aber ich bin kein Perverser, bloß ein Mann mit ganz normalen Bedürfnissen.“

Wie gefällt es?
Es steckt viel drin in diesem Roman, und er wird sicherlich für kontroverse Diskussionen sorgen. „Macht“ entwickelt durchaus spannende Vorstellungen vom Untergang der Welt, wie wir sie kennen. Schwächer ist der Roman, wenn es um die Analyse der Ursachen und Entwicklungen geht, die zu diesem Endzeitszenario geführt haben. Da kennt Karen Duve eigentlich nur einen Schuldigen, und das ist der Mann.

Karen Duve: Macht, Galiani Berlin, Euro 21,99, ISBN 9783869710082

hr-iNFO Büchercheck vom 11.02.2016    


John Boyne: Die Geschichte der Einsamkeit
Der irische Schriftsteller John Boyne setzt sich in seinem neuesten Buch
„Die Geschichte der Einsamkeit“ mit der Nachkriegsgeschichte seines Landes auseinander.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.
Worum geht es?
Irland, die idyllische grüne Insel. Das war das Klischee bis zur Jahrhundertwende. Seitdem haben nicht nur Kapitalismus und Finanzkrise die Insel heimgesucht, auch ihre mächtigste Institution, die katholische Kirche, ist entzaubert. In diesem Zeitlauf steckt Pater Odran Yates. Von der Mutter in ihrem Glauben in die Priesterausbildung geschickt, fügt sich der Junge und schweigt, als ein Priester ihm die Hand in die Hose steckt. Er fragt auch nicht nach, als er mitkriegt, dass im Priester-seminar merkwürdige Dinge geschehen. Erst als sein Freund vor Gericht steht, als sein Neffe ihn schließlich mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, von diesem Freund missbraucht worden zu sein, da erkennt Odran seine Verstrickung, seine Schuld durch Ignoranz und nimmt sie an.

„Du hast ihn ins Haus gebracht. Du hast mich mit ihm allein gelassen. Den seelischen Schaden, den dieser Mann in einer einzigen Nacht angerichtet hat, werde ich bis zu meinem Tod mit mir herumtragen. Deshalb kann ich deinen Anteil daran nicht einfach so vergessen.“ „ Ich nickte, wischte mir die Tränen vom Gesicht und sagte: Das verstehe ich. Du hast recht, ich habe ihn ins Haus gebracht und dich mit ihm allein gelassen. Du bist mein Neffe, ich hätte dafür sorgen müssen, dass dir nichts passiert. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Aidan, außer dass es mir leid tut. Es war der größte Fehler meines Lebens. Es tut mir so leid.“

Wie ist es geschrieben?
John Boyne beschreibt die Kirche als monströses Täter-, Schweige- und Vertuschungskartell. Das Buch ist aber erträglich, weil er die Details der Missbräuche ausspart und stattdessen Atmosphären beschreibt.

Wie gefällt es?
So zahm und zögerlich Pater Yates in diesem Roman daher kommt, so sanft und fast plaudernd John Boyne erzählt, so ist dieses Buch in seiner Wirkung eine Generalabrechnung mit der katholischen Kirche in Irland und auch mit dem polnischen Papst in Rom.

John Boyne: Die Geschichte der Einsamkeit,
Piper Verlag, München, Euro 16,99, ISBN 9783492060141

hr-iNFO Büchercheck vom 04.02.2016    


Val McDermid: Der lange Atem der Vergangenheit
Die Kriminalautorin Val McDermid ist bereits für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden. „Der lange Atem der Vergangenheit“ spielt in Edinburgh. Was wie eine normale Ermittlung beginnt, führt bald auf den Balkan und in die Wirren des damaligen Krieges.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Detective Chief Inspector Karen Pirie vom Dezernat für Altfälle steht vor einem Rätsel. Wer ist der Tote, der jahrelang in der Turmspitze lag, den scheinbar niemand vermisste? Das Opfer muss vom Balkan stammen, er machte „buildering“, kletterte Gebäude hoch. Und dann führt die Spur zu der Professorin Maggie Blake von der Universität Oxford, einer Expertin für das frühere Jugoslawien.

Wie ist es geschrieben?
Val McDermid schafft es, bis zum Schluss zu fesseln. Es gibt auch einige Abschweifungen und Längen in der Erzählung, aber vor allem die authentisch wirkenden Schilderungen der jungen Professorin machen das Buch zu etwas besonderem.

„Als könne sie ihre Gedanken lesen, sagte Maggie: Er war kein Fanatiker, wissen Sie. Er liebte sein Land aber er hasste das, wofür der Nationalismus auf beiden Seiten stand. Deshalb arbeitete er letztendlich für die NATO und die UN. Weil er erkannte, dass die Kämpfe keine Zukunft zuließen. Er hätte sich gefreut, zu sehen, dass diese nächste Generation online miteinander spricht, weil ihnen klar ist, dass mehr sie verbindet als trennt.“

Wie gefällt es?
„Der lange Atem der Vergangenheit“ ist mehr als ein klassischer Krimi. Die Personen sind ausführlich gezeichnet. Ich konnte mich in sie hinein fühlen und verstand die Wunde eines Krieges und aller Kriege, deren Heilung Generationen andauert. Wenn das überhaupt möglich ist.

Val McDermid: Der lange Atem der Vergangenheit, Droemer Verlag, München,
Euro 19,99, ISBN 9783426281345

hr-iNFO Büchercheck vom 28.01.2016    


Kenneth Bonert: Der Löwensucher
Kenneth Bonert wurde 1972 in Johannisburg, Südafrika, geboren und lebt seit seinem 17. Lebensjahr in Kanada. Vor zwei Jahren ist sein erster Roman erschienen. Unter dem Titel „Der Löwensucher“ ist er jetzt auf Deutsch übersetzt worden.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Roman erzählt ein weitgehend unbekanntes Kapitel der südafrikanischen Geschichte, nämlich die der jüdischen Emigration von Europa nach Südafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was diese Geschichte so faszinierend macht, fast alle stammten aus einem kleinen Schtetl im Osten Litauens. Vor diesem historischen Hintergrund erzählt Kenneth Bonert seine Geschichte vom Erwachsenwerden des jüdischen Emigrantenkindes Isaac im Johannisburg der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Wie ist es geschrieben?
Bonert lässt uns nicht einfach Partei für Isaac ergreifen. Er zeigt seine Hauptfigur in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und inneren Zerrissenheit. Etwa wenn er, der Jude, keinerlei Rücksicht gegenüber seinen schwarzen Nachbarn zeigt.  

„Isaac holt zittrig Luft und reibt sich mit einem Fingerknöchel über die Nase: Jetzt komm schon, die Schwarzen sind, wie sie sind. Das weiß jeder. Wie sie aussehen, wie sie riechen. Wie ihre Sprache klingt. Wie sie sich bewegen. Wie sie mit ihren Mädchen umgehen und so. Diese Herumtanzerei. Anders, alles anders! Du kannst einen Schwarzen nicht mit einem Juden vergleichen. Ein Jude wie ich ist ein Weißer. Wir sind Weiße.“

Wie gefällt es?
„Der Löwensucher“ hat mich tief beeindruckt. Ich habe viel gelernt, ohne das Gefühl gehabt zu haben, auf der 800-Seiten-Strecke auch nur eine Sekunde belehrt, geschweige denn gelangweilt worden zu sein.

Kenneth Bonert: Der Löwensucher, Diogenes Verlag, Euro 25,90, ISBN 9783257069235



hr-iNFO Büchercheck vom 21.01.2016    


Martin Walser: Ein sterbender Mann
88 Jahre ist der Schriftsteller Martin Walser alt, aber immer noch produktiver als die meisten seiner jüngeren Kollegen. Gerade ist sein neuster Roman erschienen. „Ein sterbender Mann“ heißt er.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der sterbende Mann in diesem Roman heißt Theo Schadt. Er ist ein 72jähriger Unternehmer, der von seinem besten Freund verraten und um einen Großteil seines Besitzes gebracht wurde. Und deshalb will Theo Schadt sterben und tut das, was man heute offenbar tut, wenn man sterben will. Er geht ins Internet. Außerdem ist da auch noch diese Frau. Die Liebe kommt ins Spiel und drängt das Thema „Sterben“ nach und nach in den Hintergrund, ohne dass es verschwinden würde. Am Schluss sind tatsächlich drei Menschen tot.

Wie ist es geschrieben?
Dieser Roman ist ziemlich virtuos konstruiert. Es gibt die Emails in diesem Selbstmord-Chat, es gibt die Briefe an die angebetete Frau, und von beidem berichtet Theo Schadt wiederum in Briefen, die er an einen Schriftsteller schreibt. Das scheint eine etwas verwickelte Struktur zu sein, funktioniert aber wunderbar.

„Es ist deutlich genug, dass jeder Jüngere einen Fünfundsechzig- oder Siebzigjährigen für sehr alt hält. Man spürt, dass in jedem Satz an eine Abgeklärtheit und Sterbebereitschaft appelliert wird, die man nicht hat. Man ist alt, das stimmt. Aber man hat keine anderen Wünsche oder Absichten als jemand, der zwanzig Jahre jünger ist. Der Unterschied: Man muss jetzt so tun, als hätte man ganz andere Wünsche und ganz andere Absichten als ein Fünfundvierzigjähriger. Das Altsein ist eine Heuchelei vor Jüngeren.“

Wie gefällt es?
Das ist Martin Walser in Hochform, ein Schriftsteller der offenbar mehr Freude an der Sprache als Ehrfurcht vor dem Tod hat.

Martin Walser: Ein sterbender Mann, Rowohlt Verlag, Euro 19,95, ISBN 9783498073886



hr-iNFO Büchercheck vom 14.01.2016    


Ruth Cerha: Bora - Eine Geschichte vom Wind
Bei dem Wetter da draußen – wer träumt da nicht von Sommer, Strand und Sonne. Das alles gibt es in einem Roman der Wiener Autorin Ruth Cerha. Eine Liebesgeschichte auf einer kleinen kroatischen Insel.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Bora, das ist ein kalter und heftiger Wind, der immer wieder über die kleine Insel weht. So heftig, dass er die Stimmung der Menschen verändert. Wenige Einheimische und einige Langzeiturlauber beherbergt das Inselchen und auch viele ehemalige Bewohner, die in der Tito-Zeit in die USA flüchteten und nun immer wieder im Juli zurückkommen. Unter den Urlaubern auch Mara, die Schriftstellerin aus Österreich, und Andrej, der weltläufige Fotograf, aufgewachsen in New Jersey, Sohn von Auswanderern. Mara und Andrej verlieben sich. Ein romantisches Setting mit pittoresken Buchten, üppigem Kochen und Essen, mit Hitze und Salz auf der Haut. Das könnte die Folie für einen Klischeeroman sein, ist es aber nicht. Denn diese Liebesgeschichte hat Tiefgründe. Mara und Andrej sind auf der Suche nach innerer Heimat, beide leiden an beruflichen Kreativitätslöchern. Auf der Insel wollen sie auftanken. Diese Liebesbeziehung ist keine einfache. Sie erlebt den Rausch und die Geborgenheit, aber auch das Misstrauen und die Missverständnisse, und die existenziellen Fragen, wie weit man das Ich bereit ist zu öffnen oder auch aufzugeben für den Anderen. Ende offen.

Wie ist es geschrieben?
Ruth Cerha erzählt ihre Liebesgeschichte wechselseitig aus den Perspektiven ihrer Protagonisten. Und sie erzählt sie in großen Bildern. Man sieht die Insel vor sich beim Lesen, riecht sie, spürt den Wind auf der Haut. Auch die Seelenzustände ihrer Figuren übersetzt sie in Bilder.

„Damals, ganz am Anfang, fielen uns die Worte aus dem Mund wie bunte Glasmurmeln, rollten hin und her, trafen mit freudigem Klackern aufeinander, wechselten die Richtung ganz nach ihrer eigenen Lust und Laune. Wie unserer Berührungen fanden sie ihr Ziel, falls es eines gab, ohne jede Anstrengung.“
Diese Bildersprache erzeugt eine starke sinnliche Intensität. Sie wird noch verstärkt durch die Melodie und den Rhythmus des Erzählens.

Wie gefällt es?
Bora ist ein Buch zum Abtauchen. Für mich war es gerade jetzt im Winter ein Fluchtort. Es stillt ein wenig die Sehnsucht nach Sommer. Das funktioniert natürlich nur, weil es erstens keine platte Romanze ist, die wir da als Leser miterleben, sondern eine komplexe Beziehung von komplizierten Naturen. Und zweitens, weil die Auswanderergeschichte trägt und für die meisten von uns viel Neues birgt.

Ruth Cerha: Bora – eine Geschichte vom Wind, Frankfurter Verlagsanstalt, Euro 19,90
ISBN 978-3627002152



hr-iNFO Büchercheck vom 07.01.2016    


Antonio Ortuño: Die Verbrannten
Der Krimi „Die Verbrannten“ von Antonio Ortuño beginnt mit einem absichtlich gelegten Feuer in einer Flüchtlingsunterkunft in Mexiko.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Feuer hat vierzig Tote und Dutzende Verletzte gekostet, doch in
Santa Rita, einem fiktiven Ort tief im Süden Mexikos, ist niemand wirklich an der Aufklärung interessiert.

Wie ist es geschrieben?
„Die Verbrannten“ von Antonio Ortuño ist das vielschichtige Portrait eines menschenverachtenden Systems. Es gibt drastische Schilderungen von Gewaltszenen, die fast dokumentarischen Charakter haben. Zugleich spürt man immer die Wut und den Zorn des mexikanischen Autors über den alltäglichen Rassismus in seinem Land.

„Seine Rolle in dem Geschäft, das hier betrieben wird, sei lediglich, die Migranten zu bewachen, die mit dem Zug aus Zentralamerika kommen. Sie würden den Schiebern aus dem Süden abgekauft. Manchmal beschränke man sich darauf, von den Migranten zusätzliches Geld zu verlangen, damit sie passieren dürfen, oder man verkaufe ihnen ein bisschen Wasser oder Essen. Manchmal, wenn die Gruppe groß ist und danach aussieht, dass man ihr mehr abknöpfen kann, entführe man sie. Von einigen bekomme man Lösegeld, andere würden gezwungen, als ‚Fischer’ von anderen Unglücklichen zu arbeiten oder gleich als Spitzel. Wenn einer sich weigere, dann werde er halt getötet. Dasselbe gilt für die, die fliehen.“

Wie gefällt es?
„Die Verbrannten“ von Antonio Ortuño ist harte Kost. Ein realistischer Krimi, der lange nachhallt.

Antonio Ortuño: Die Verbrannten, Antje Kunstmann Verlag, München, Euro 19,95, ISBN 9783956140556

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